⇒ Der Tenor dieses Blogs ist: Ungarn, Polen & Co haben durch ihre Anti-EU-Politik eine rote Linie überschritten. Das muss Folgen haben.
Von Wolf Achim Wiegand
Budapest (waw) – Nein, das war kein Aprilscherz, was am 1. April 2017 aus Budapest gemeldet wurde. Es waren auch keine Fake News. Und erst recht keine alternativen Fakten. Dennoch konnte man es kaum glauben. Was war an der schönen blauen Donau geschehen?
Viktor Orbán, der stramm rechtsgerichtete Regierungschef von Ungarn, hatte sich mal wieder mit der Europäischen Union angelegt. Wie viele Male zuvor war sein Hassobjekt erneut die Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU. Allerdings: dieses Mal übertraf sich der 53jährige Ex-Anwalt und Vorsitzende des dominanten Bürgerbundes, kurz Fidesz, selbst.
Jeder ungarische Haushalt erhielt dieser Tage Post von der Regierung. Im Rahmen einer “Nationalen Konsultation 2017“ wollte Orbán per “Fragebogen” unter anderem von seinen Bürgern wissen, was er gegen den angeblichen EU-Plan zur “freien Einreise illegaler Immigranten” tun solle (Originaltext). Ein EU-Plan für grenzenlose Einreise – den gibt es nicht, aber das ist im heutigen Ungarn egal.
Orbáns „Frage“ an die Ungarn ist perfide gestellt: „In jüngster Zeit haben laufend Terrorattacken in Europa stattgefunden. Trotzdem will Brüssel Ungarn zwingen, illegale Migranten ins Land zu lassen. Was denken Sie, das Ungarn tun sollte?” Zwei Antworten stehen zur Abstimmung: „Wir sollten illegalen Einwanderern erlauben, sich frei im Land zu bewegen“ und „Illegale Einwanderer müssen überwacht werden, bis die Behörden über ihren Fall entscheiden“. Differenzierung ist Orbáns Sache nicht.
Öl ins Feuer der umstrittenen “Nationalen Konsultation 2017“ goss noch Kommunikationsminister Bence Tuzson. Der smarte 45jährige meinte mit Blick auf Brüssel, Ungarn stehe vor „großen Kämpfen“. Daraus könne es aber mit Unterstützung seiner Menschen „als Sieger“ hervorgehen. „Noch nie hat ein Regierungschef eines EU-Mitgliedslands mit solchen Hassparolen gegen Brüssel polemisiert,“ konstatiert PROFIL, Österreichs unabhängiges Nachrichtenmagazin.
Und in der Tat: Hier wurde abermals eine rote Linie überschritten! Orbán tut nämlich längst so, als gäbe es für Ungarn gar keine partnerschaftliche Mitgliedschaft in einer Union von 28 (bald 27) Partnern. Besonders in Sachen Migranten geht das Land einen Sonderweg. So packt man frisch ankommende Geflohene im Land der Magyaren wie Kriminelle in unmenschliche Containercamps. Die dem Tod, der Vertreibung oder wirtschaftlichen Not Entronnenen dürfen nur dort eingepfercht leben, haben in dem EU-Mitgliedsland jegliche Bewegungsfreiheit verloren.
„Transitzonen“ nennt Sicherheitsberater György Bakondi diese Gefängnisse. Sie stehen nah am schwer gesicherten Grenzzaun. Heraus kommt man nur in zwei Richtungen: mit positivem Asylantrag in der Hand (also eher selten) in Richtung Ungarn oder auf dem anderen Weg – zurück hinter die EU-Außengrenze, zurück in die Perspektive Elend.
Doch Orbán hat weitere „Feinde“ ausgemacht: Das jüngste sturmreif geschossene Angriffsziel der ungarischen Führungsmenschen ist die amerikanisch-ungarische Central European University (CEU) in Budapest, eine private Hochschule, gegründet vom ungarnstämmigen US-Milliardär George Soros. Der ist weltweit als Mäzen liberaler und sozialer Ideen unterwegs. So auch in seinem Herkunftsland.
Eine international vernetzte Lehranstalt für freie Ideen mitten in Budapest? Das war für Orbán offensichtlich unerträglich. Kurzerhand ließ er die renommierte CEU vom hörigen Parlament mit einer Lex CEU quasi unter Staatskontrolle stellen – Schluss mit lustig für Soros. Heftige ausländische und inländische Proteste (80.000 Menschen demonstrierten in Budapest!) – für Orbán alles unbedeutend. Ebenso egal ist ihm die Empörung über den Plan, harte Auflagen für die vom Ausland finanzierten Stiftungen zu machen, so hart, wie sonst nur in einer Diktatur wie Russland üblich – ach ja, Orbán und Putin verstehen sich schon immer prächtig…
Wäre der ungarische Machtmensch Orbán ein Fußballer von Ferencváros Budapest könnte man davon ausgehen, dass Trainer Thomas Doll und Klub-Präsident Gábor Kubatov ihn aus dem Klub entfernen würden – wegen grober Untreue. Nicht so die EU!
Dabei juckten einen Orbán schon drei Vertragsverletzungsverfahren nicht: wegen staatlicher Gängelung der Notenbank, der Justiz und des Datenschutzes. Angesichts der Erfolglosigkeit solcher Maßnahmen vermeidet EU-Justizkommissarin Vera Jourova nun ein neues Dazwischentreten Brüssels: sie glaube nicht, dass dieses „viel hilft“ ließ die liberalpopulistische Tschechin erklären. So sieht Resignation aus.
Es ist unglaublich, was sich einige EU-Mitgliedsregierungen erlauben können!
Und noch unglaublicher ist es, dass sie ihre Taten gegen den Geist offener Gesellschaften in der Union ungehindert durchziehen können. Wie können wir es in Europa hinnehmen, dass einzelne Herrschaften Grundwerte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat auf ihrem Territorium lieber mal ein bisschen einschrumpfen lassen?
Das Schlimme ist: ein Orbán kommt nicht allein. Der zweite Abweichler heißt Jarosław Kaczyński und zieht aus dem Hintergrund die Fäden für Premierministerin Beata Szydło. Auch das ein „systemischer Angriff“ – wie es der liberale EU-Fraktionschef Guy Verhofstadt nennt – gegen demokratische Institutionen wie das Verfassungsgericht oder gegen Medien. Das sind ernsthafte Vergehen gegen das, wofür die EU steht, aber auch die NATO, deren wohlbehütete Mitglieder Ungarn wie Polen seit 1999 sein dürfen.
Was tun? Es gibt drei Möglichkeiten:
- Die demokratischen Kräfte in Europe müssen den Kampf gegen das Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat aufnehmen. Jetzt. Unter den EU-Regierungschefs sollte das Mehrheitsrecht gelten, so, wie es in jedem europäischen Parlament außer für Verfassungsfragen üblich ist.
- Die demokratischen Kräfte in Europe müssen den Kampf für die Einführung wirksamer und schneller Sanktionsmöglichkeiten gegen Quertreiber aufnehmen. Jetzt. Diejenigen Regierungen, die sich notorisch weigern, den Regeln zu folgen, sollten verbindlich fällige Strafen wie Entzug von Finanzmitteln, Verlust von Stimmrechten oder andere drakonische Druckmittel auferlegt werden können.
- Und es muss klar sein: eine Regierung, die sich nicht an die Klubregeln fügt, die das Land mit dem Beitritt zur EU anerkannt hat, muss letztlich ausgeschlossen werden können. Und zwar mit einer saftigen Schlussrechnung. Ein “hard exit” sozusagen.
Wir sollten uns in der Europäischen Union nicht mehr länger von Orbán & Co zum Narren halten lassen! “Orbán hat erneut gezeigt, wie wenig Respekt er vor der EU, ihren Prinzipien und ihren Werten hat”, klagt Sophie in ‘t Veld, die Erste Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der liberalen ALDE-Gruppe im Europäischen Parlament. Der niederländische Populismusexperte Cas Mudde stellt im Guardian fest: “Die EU hat Viktor Orbán viel zu lange toleriert. Sie muss nun Position beziehen.“ Genau.
Kleines Problem: die EU-Geschäftsordnung kann nur einstimmig geändert werden. Also nie. Weil Ungarn wie Polen nicht Ja sagen werden. Selbst wenn die anderen 26 oder 25 Mitglieder es beschließen. Das klingt dann doch wie ein Aprilscherz. Ist aber keiner. Und nun?