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⇒ Top­ic dieses Blogs: Reflexar­tig fordern Poli­tik­er bei Ter­ror und anderen schw­eren Gewalt­tat­en eine europäis­che Ver­brech­er- bzw. Extrem­is­ten­datei. Damit, so wird der erschrock­e­nen Öffentlichkeit sug­geriert, könne man rasch und ein­fach anreisewil­lige Straftäter schon im Vor­feld iden­ti­fizieren und vor dem Trip stop­pen. Doch eine län­derüber­greifende Liste kann derzeit in der EU gar nicht aufge­baut wer­den. Warum?

Von Wolf Achim Wie­gand

Ham­burg (waw) – Nach den Ham­burg­er G20-Gewalt­tat­en, an denen sich poli­tisch motivierte Krim­inelle aus ganz Europa beteiligt hat­ten, erscholl wieder der Ruf nach einem län­derüber­greifend­en Verdächti­gen­reg­is­ter. „Wir haben im Extrem­is­ten­bere­ich keine aus­re­ichende Daten­grund­lage in Europa”, klagte Jus­tizmin­is­ter Heiko Maas. Eine solche Datei werde es den Behör­den ermöglichen, „bei solchen Ereignis­sen einen besseren Überblick zu bekom­men und Leute an den Gren­zen abzuweisen” In der Union nan­nte man den SPD-Vorschlag „sehr sin­nvoll und unter­stützenswert”.

Die Wahrheit ist: ein EU-Index gewalt­bere­it­er Per­so­n­en liegt in weit­er, weit­er Ferne. Denn die 28 Mit­glied­sregierun­gen lei­den an notorisch­er Eigen­brötelei und ver­hin­dern so den ein­leuch­t­end klin­gen­den Plan. Die größte Hürde bauen also aus­gerech­net jene auf, die Forderun­gen nach ein­er EU-weit­en Extrem­is­ten­datei bei jed­er sich bietenden Gele­gen­heit laut­stark in die Öffentlichkeit posaunen. Noch in kein­er einzi­gen EU-Haupt­stadt hat man sich bequemt, nationale Namensspe­ich­er mit denen der anderen 27 Län­der zu vere­in­heitlichen. So klingt die Forderung nach ein­er Extrem­is­ten­datei zwar gut, ist aber nur eine pop­uläre Worthülse.

Wer in ein Ver­brecherverze­ich­nis aufgenom­men wird und wer nicht, das ist zwis­chen Stock­holm und Sizilien völ­lig unter­schiedlich geregelt. Was in Berlin als spe­ich­ern­swert gilt, ist für Bratisla­va beden­klich oder gän­zlich aus­geschlossen. Auch wie lange Dat­en gespe­ichert wer­den sollen — und nach welchen Kri­te­rien man sie wieder löschen kann — ist strit­tig. Keine Har­monie zudem in der Frage, welche Fak­ten eigentlich miteinan­der verknüpft wer­den sollen und dür­fen.

Der poli­tis­che Wirrwarr frustet die beste­hen­den, aber macht­losen Sicher­heitsstellen der EU-Staat­en. Das europäis­che Polizeiamt Europol (Sitz: Warschau) etwa hat vor und während des G20-Desasters über sein Analy­se­pro­jekt „Dol­phin“ viele Fak­ten über umher­reisende „Krawall­touris­ten“ geliefert. Doch selb­st ein­greifen kon­nte Europol nicht, weil es dafür kein Man­dat hat. Und so blieb dem Amt let­ztlich nur zuzuschauen, ob und was die nationalen Polizeien mit den Europol-Fak­ten­dossiers macht­en — und was nicht.

Gen­ervt sind auch Mitar­beit­er beim Schen­gener Infor­ma­tion­ssys­tem (SIS) in Straßburg. Hier lagern gut 50 Mil­lio­nen Daten­sätze, darunter über uner­wün­schte Per­so­n­en. Ob die SID-Belege abgerufen und ver­w­ertet wer­den, das liegt auch hier auss­chließlich bei den nationalen Sicher­heit­skräften. Nicht anders ist es beim Europäis­chen Infor­ma­tion­ssys­tem über Strafreg­is­ter (Ecris), das Dat­en zu vorbe­straften Per­so­n­en sam­melt und hütet.

Insid­er sagen, die man­gel­nde Daten­er­fas­sung und ‑auswer­tung sei eine Folge von „Mis­strauen“ zwis­chen den beteiligten Behör­den. Nicht jedes Amt wolle aus­ländis­chen Sicher­heits­di­en­sten den Zugriff auf das nationale Sys­tem ges­tat­ten. Zu gut Deutsch: EU-Fah­n­der befürcht­en gegen­seit­i­gen Daten­klau – oder ver­ber­gen sich dahin­ter wom­öglich schlichte Besitz­s­tandswahrun­gen? Solch krämerseel­ige Eigen­brötelei kön­nen wir uns in Europa nicht leis­ten – zu groß sind die Her­aus­forderun­gen.

Kri­tik­er begrün­den ihr Veto gegen Ver­bund­dateien unter anderem mit dem Tren­nungs­ge­bot zwis­chen Polizeien und Geheim­di­en­sten. Die Lin­ie könne unter­laufen und Unschuldige erfasst wer­den. Diese Befürch­tung ist ernst zu nehmen. Jedoch kann eine cle­vere Geset­zge­bung den Schutz der Bürg­er und die Wahrung der indi­vidu­ellen Frei­heit verknüpfen.

Ger­ade wenn wir Europäer das Prinzip offen­er EU-Gren­zen beibehal­ten wollen, dür­fen unsere Regierun­gen es nicht nur auf den wirtschaftlichen Bin­nen­markt einen­gen. Wir brauchen zugle­ich einen homo­ge­nen EU-Sicher­heit­sraum. Deshalb kann die Antwort in Zeit­en ver­net­zt vorge­hen­der ein- und durchreisender Gewalt­täter nur die Grün­dung eines schlagkräfti­gen „europäis­chen FBI“ sein.

Europol muss ähn­lich wie die US-Bun­de­spolizei oper­a­tive Befug­nisse bekom­men. Das Amt muss nationalen Strafver­fol­gungs­be­hör­den bei der Bekämp­fung schw­er­er inter­na­tionaler Krim­i­nal­ität nicht nur helfen, son­dern es muss mit einem eige­nen Appa­rat von sich aus EU-weit tätig wer­den kön­nen.

Ja, das bedeutet Mut zur Abgabe nationaler Kom­pe­ten­zen und deren gezielte Über­führung in eine innereu­ropäis­che Sicher­heit­sar­chitek­tur. Europol solle „mit den nationalen Polizeibehör­den zusam­men gegen Ter­ror­is­mus und organ­isierte Krim­i­nal­ität kämpfen“, fordert der FDP-Europaab­ge­ord­nete Alexan­der Graf Lamb­s­dorff. In der Polizei- und Jus­tizpoli­tik sei Europa bish­er „ein zahn­los­er Tiger“.

Lamb­s­dorff geht noch weit­er: zu ein­er europäis­chen Sicher­heit­sar­chitek­tur gehöre fern­er eine Europäis­che Staat­san­waltschaft. Der Gedanke dabei ist die schnellere und effek­ti­vere Vor­bere­itung von Urteilen gegen Straftat­touris­ten. Neuerd­ings wollen 20 Mit­glied­staat­en, darunter Deutsch­land, der soge­nan­nten „Ein­heit für jus­tizielle Zusam­me­nar­beit der Europäis­chen Union“ (Euro­just) mehr Kom­pe­ten­zen zugeste­hen. Freilich nur bei Verge­hen mit Auswirkun­gen auf das EU-Bud­get, wie Mehrw­ert­s­teuer­be­trug. Das ist weit ent­fer­nt von ein­er europäis­chen Anklage­be­hörde.

Und so warten wir also weit­er auf einen großen Wurf der EU-Regierun­gen zum The­ma innere Sicher­heit. Kommt der nicht, wer­den Schweiz­er Extrem­is­ten bei näch­ster Gele­gen­heit erneut unge­hin­dert einen Son­derzug ins Tat­ge­bi­et organ­isieren kön­nen. Britis­che Linkschaoten wer­den wieder mit dem gechar­terten Minibus kom­men, um zuzuschla­gen. Und deutsche Anar­chos wer­den gle­ich­gesin­nte Zer­störungswütige aus Frankre­ich, Bel­gien, Spanien, Griechen­land oder Ital­ien nochmals zu einem Fes­ti­val der Straftat­en ein­laden.

Europas innere Sicher­heit­spoli­tik geht zu langsam voran. Das zeigte erneut die Kon­ferenz der EU-Innen- und Jus­tizmin­is­ter wenige Tage nach den Ham­burg­er G20-Auschre­itun­gen. Dabei beri­eten die Poli­tik­er lange über Ver­net­zun­gen von Reise‑, Visa- und Fin­ger­ab­druck­dateien. Doch auch das ist let­ztlich Stück­w­erk und passt zur unglaub­würdi­gen Forderung nach ein­er derzeit unre­al­is­tis­chen Daten­bank über EU-Extrem­is­ten.