⇒ Inhalt dieses Blogs: Die EU hat am 13.11.2017 die Verzahnung ihrer Armeen eingeleitet. Eine echte EU-Armee ist das noch nicht. Der Schlüssel dazu liegt auch in Berlin. Hätte eine “Jamaika”-Koalition das Tor zur Europäischen Armee geöffnet?
Von Wolf Achim Wiegand (aktualisiert am 12.01.2018)
Hamburg/Brüssel (waw) – Wenn die Jamaika-Koalition tatsächlich zustande gekommen wäre, hätte Deutschland bei einem wichtigen europäischen Thema eine Führungsrolle in der EU übernehmen können. Gemeint ist die Verwirklichung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU). Sie ist zwar seit 2003 in Richtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung festgeschrieben und wurde bereits 1992 im Vertrag vonMaastricht vereinbart. Doch der Plan ist auf EU-Ebene immer wieder ausgebremst worden, insbesondere aus London.
Dabei war es der damalige britische Premier Winston Churchill, der als Erster schon 1950 eine “Europäische Armee unter demokratischer europäischer Kontrolle“ vorschlug – und an Frankreich scheiterte, das heute ganz anders denkt.
Nun, da Großbritannien die Scheidung von der EU eingereicht hat, ist erhebliche Bewegung in die GSVP gekommen. Interessierte EU-Regierungen werden in 2018 gemeinsame Rüstungsprojekte vorschlagen. Den Auftakt machten mittlerweile 25 EU-Staaten mit der Unterzeichnung eines Grundsatzdokumentes für eine EU-Verteidigungsunion. Der Pakt regelt Bedingungen und Verpflichtungen für die militärische Kooperation. Rückt damit das Fernziel einer Europäischen Armee näher?
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte schon einige Zeit vor dem Brüsseler Pakt in einem öffentlich eher wenig beachteten Zeitschriftenartikel einige Pflöcke eingeschlagen. Nach den Worten der CDU-Politikerin kommen „gemeinsame Truppen, die in der Krise schnell eingesetzt werden können oder eine gemeinsame Cyberabwehr.” Das ist fast deckungsgleich mit Plänen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der in seiner EU-Ruckrede an der Pariser Universität Sorbonne eine gemeinsame „Eingreiftruppe“ und einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt vorgeschlagen hatte – zu verwirklichen bis 2020.
Frankreich als Vorhut einer EU-Armee?
Es sind besonders Frankreich und Deutschland, die als Treiber einer europäischen Verteidigungsintegration auftreten, auch wenn die Koalitionsverhandlungen in Berlin zunächst eine gewisse Verlangsamung bedeuten. Den Kick zur Aufbruchstimmung gaben sowieso ganz andere Ereignisse weit weg von der “Berlin bubble”.
Da war zunächst 2016 der Brexit-Abgang Großbritanniens, das schon immer gegen jedwede weitere EU-Integration “no!” gerufen hatte. Und dann kam 2017 der Amtsantritt von US-Präsident Donald J. Trump. Die Sticheleien aus dem Weißen Haus gegen die NATO-Verbündeten wirkten geradezu wie ein Elixier für unabhängigeres europäisches Denken. Trumps singuläres Verhalten in der Iran-Frage tat ein Übriges.
Einer ist inzwischen in “Vorleistung” getreten: Emmanuel Macron. Der Präsident der künftig einzigen EU-Atommacht kündigte an, jeder EU-Bürger dürfe künftig in die französische Armee eintreten – ein kühner Plan, der so noch in keiner anderen europäischen Hauptstadt zu hören gewesen ist. Theoretisch hat der ehrgeizige Chef des Elysee-Palastes mit seiner Öffnung für dienstbereite EU-Bürger die forces armées françaises zumindest auf dem Papier zu einer Art europäischen Streitkraft gemacht.
Macrons Credo ist, dass die Fixierung auf Nationalstaaten in Europa nicht in die Zeit passt. Tatsächlich wirken Staatsgrenzen in einem Binnenmarkt inmitten einer globalisierten und vernetzten Welt vielfach anachronistisch, ganz besonders in der Verteidigungsbeschaffung.
„In der europäischen Rüstungsindustrie existiert kein Binnenmarkt, sondern Zersplitterung, Duplizität und Protektionismus,“ stellt Sophia Besch vom Centre for European Reform (CER, London) fest.
EU-Rüstungswirrwarr entzerren
Von der Leyen sieht das genauso: “Statt uns europaweit 20 Typen von Kampfflugzeugen mit 20 verschiedenen Ausbildungsgängen für Piloten, 20 Produktionslinien, Instandshaltungs- und Logistikketten zu leisten, könnten wir auf ein einheitliches europäisches Kampfflugzeug der nächsten Generation setzen.”
Diese Position folgt der von Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. “Keiner kann die heutigen Sicherheitsherausforderungen erfolgreich allein bewältigen,“ erklärt Pedro Serrano, die rechte Hand Mogherinis für Verteidigungspolitik. Eine einheitliche Rüstungspolitik sei letztlich günstiger, als das bislang herrschende MultiKulti-Wurschteln mit verschiedensten Ausrüstungssystemen. Darüber hinaus könne ein vollwertiges militärisches Hauptquartier die Einsatzplanung effizienter machen, als es die gegenwärtige Rundrufdiplomatie zwischen europäischen Hauptstädten vermöchte.
Einsatzfelder für eine Europäische Verteidigungsunion gibt es viele, denn die EU ist nicht mehr – wie eine zeitlang geglaubt – eine Insel der Seligen. Besonders vom direkten Nachbarn Russland geht nach Ansicht von Strategen erhebliches Bedrohungspotenzial aus.
Wie aggressiv der Kreml seine Interessen verfolgt, das zeigte sich erstmals im Kaukasuskrieg 2008, als russische Truppen gegen die georgische Armee kämpften. Weitere Rückschläge im Verhältnis der Europäischen Union zu Russland waren die Annexion der Krim 2014 sowie die andauernde Destabilisierung der Ostukraine. Europäische Wirtschaftssanktionen gegen den Kreml waren die Folge.
Unsicherer wird Europa auch durch die massiven Fluchtbewegungen aus dem Irak und Syrien, sowie durch den Druck illegaler Migration aus Afrika. Dazu kommen Gefahrenherde durch zerfallende Staaten an der europäischen Peripherie von Libyen am Mittelmeer über die Sahel-Zone bis nach Somalia am Indischen Ozean. Dort und anderswo blüht islamistischer Terrorismus, den Europa allein durch präventive Polizeiarbeit nicht besiegen kann. Weitere Krisenpotenziale sind mögliche Folgen des Klimawandels und Unsicherheiten bei der Energieversorgung – innere und äußere Sicherheit verquicken sich so in Europa.
Wie finanzieren sich EU-Streitkräfte?
Für die Frage, wie das Projekt gemeinsamer europäischer Verteidigung finanziert werden könnte, gibt es konkrete Vorschläge. Der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, möchte Gelder über den siebenjährigen EU-Finanzrahmen (MFR) bereitstellen, der jährliche Höchstbeträge für EU-Ausgaben festlegt. Ein weiteres Finanzierungstool wäre der im Juni 2017 von den Regierungschefs eingebrachte EU-Verteidigungsfonds (EUDF), der ab 2020 rund 500 Millionen Euro für die Rüstungsforschung vorsieht. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani kann sich indes einen EU-Haushalt und EU-spezifische Steuern vorstellen, nicht nur, aber auch, um die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich voranzutreiben. Das letzte Wort der einzelnen Regierungen und des Europaparlaments ist noch nicht gesprochen.
Und in Berlin? Innerhalb der zunächst für möglich gehaltenen “Jamaika”-Koalition hatte eine Europäische Verteidigungsunion viele Freunde – aber auch das Fernziel einer ganzheitlichen Europäischen Armee. Bei der CDU war das Thema im vorigen Europawahlprogramm ebenso enthalten, wie im Koalitionsvertrag mit CSU und SPD. Somit war die – zunächst oppositionell eingestellte – SPD mit im Boot gewesen: „Am Ende wird eine Europäische Armee stehen,“ prognostizierte der langjährige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels. Die FDP hatte die Idee ebenfalls im Bundestagswahlpogramm klar festgeschrieben. Die Grünen schließlich verlangten „Schritte zu einer verstärkten Zusammenarbeit und Integration der Streitkräfte in der Europäischen Union“, freilich ohne Erhöhung der Militärausgaben und ohne Atomwaffen.
Europa militärisch vereinen – ein Fall fürs Geschichtsbuch?
Kurzfristig, so räumt von der Leyen ein, werde die intensivere Zusammenarbeit “Investitionen erfordern“. Dabei müsse Deutschland vorangehen. “Aber die Investitionen sollten wir nicht scheuen, denn sie bringen auf Dauer gewaltige Synergien, Skaleneffekte und mittelfristig Einsparungen für jeden einzelnen.” Das sieht EU-Verteidigungsexperte Serrano genauso: „Die EU-Mitgliedsstaaten müssen akzeptieren, dass sie die Sicherheitserwartungen ihrer Bürger nur durch verstärkte Zusammenarbeit erfüllen können.“
Angela Merkel als Regierungschefin des größten EU-Landes wird uns in ihren wohl letzten Regierungsjahren vermutlich noch keine ausgewachsene Europäische Armee bringen, auch nicht in einer Großen Koalition mit der SPD. Denn zu diesem letzten Schritt bei der EU-Verteidigung sind zurzeit nur ein paar Kernländer bereit und zu viele darum herum dagegen. Aber schon mit einem engen organisatorischen und rüstungspolitischen Zusammenbringen der meisten EU-Streitkräfte geht es um ein Jahrhundertprojekt. Damit könnte sich Merkel mit dem EU-Reformmotor Macron in europäische Geschichtsbücher eintragen.
Wie sagte Macron in seiner Rede an der Pariser Universität Sorbonne? “Ich habe keine roten Linien, ich habe nur Horizonte.” Hoffen wir, dass die deutsche Politik auch auf Fernsicht schaltet.