Liberale in Europa – quo vadis?

Inhalt dieses Blogs: Die Liberalen in Europa wollen das EU-Machtkartell von Konservativen und Sozialdemokraten brechen. Für die Europawahl 2019 sammeln sie jetzt schon ihre Kräfte. Kann der Sturm gelingen?

Von Wolf Achim Wiegand

ALDE-Hans-van-Baalen-Quelle_FBoffiziellAmsterdam (waw) – Johannes Cornelis „Hans“ van Baalen ist ein bedächtig wirkender Mann. Theatralisches Auftreten ist nicht das Ding des 57jährigen Europapolitikers aus den Niederlanden. Doch van Baalen hat Großes vor: er will die Liberalen bei der Europawahl 2019 zur entscheidenden politischen Kraft der EU machen. “Wir können die stärkste europäische Partei werden”, erklärte van Baalen bereits vor einem Jahr.

Der Aufbruch zum Durchbruch soll am ersten Adventswochenende beginnen. Dann möchte der Reserveoffizier beim Jahreskongress der liberalen Dachpartei ALDE (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) in Amsterdam den Marschbefehl zum Sturm geben – als alter und vermutlich erneuter ALDE-Party-Vorsitzender. Ziel des Angriffs ist die in Europa tonangebende “ewige große Koalition”. Sie hält seit Jahrzehnten alle Oppositionsparteien im Europäischen Parlament in Schach.

Das regelmäßige Überstimmt-Werden im Europäischen Parlament nervt die Liberalen. Hoffnung auf Besserung schöpft van Baalen nun durch den Niedergang der europäischen Sozialdemokraten, die auf EU-Ebene als SPE/PES firmieren. Zugleich ist das Lager der christdemokratischen und konservativen Parteien (EPP/EVP) zersplittert und vom Rechtspopulismus angenagt. Die Liberalen wollen jetzt die frische Kraft werden, die aus der Mitte heraus an der Spitze eines Neustarts in Europa steht – pro EU, aber reformbereit.

Der Optimismus van Baalens nährt sich nicht nur aus der Schwäche der Gegner, sondern auch aus spürbarem Zuwachs für die liberale Parteienfamilie. Seit der vorigen Europawahl im Jahre 2014 haben sich in mehreren EU-Ländern neue liberale Parteien gebildet. Sie sind sozusagen eine Gegenbewegung zu den überall aufgetauchten Populisten.

Spanien-Ciudadanos--ParteichefRIVERA1

In Spanien etwa stößt seit 2015 die Bürgerpartei Ciudadanos in die Mitte der spanischen Gesellschaft vor. Geführt von dem alerten katalanischer Jungpolitiker Albert Rivera (39, Bild links) zielt Ciudadanos gleichermaßen gegen die regierende und sehr konservative Volkspartei PP von Ministerpräsident Mariano Rajoy (62) wie gegen die Partei Podemos des sehr linken Tribuns Pablo Iglesias (39). Polen-Novocesna_RichardPetru-offiziellFLICKR

In Polen ist die junge klassisch-liberale Partei Nowoczesna (Die Moderne) unter der 48jährigen Mathematikprofessorin Katarzyna Lubnauer aktiv. Sie kämpft für Bürgerrechte und Freiheit und gegen die Verletzung von Rechtsstaatregeln durch die erznationalistische Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, “Recht und Gerechtigkeit”) unter Jarosław Kaczyński (68). Lubnauer und Parteigründer Petru (Bild oben) werfen dem starken Mann Polens “totalitäre Methoden und Praktiken des Nazismus, Faschismus und Kommunismus” vor.

Für van Baalen gibt allerdings nicht nur Felder zu beackern, über denen eitel Sonnenschein liegt. So in seiner Heimat, den Niederlanden. Er selbst kommt aus der konservativ-liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die bei der vorigen Wahl Federn lassen musste. Erstarkt sind dagegen die rivalisierenden linksliberalen Democraten 66 (D66) unter Alexander Pechtold (51), die wie die VVD zur ALDE-Familie gehören. Van Baalen darf die D66 ebensowenig verprellen, wie die VVD seines Parteifreundes Mark Rutte (50), der als niederländischer Regierungschef bei Fragen der EU-Integration skeptisch ist.

Slowakei-Andrej Babiš

Ein besonders schwieriges Kind der Parteienfamilie ist die tschechische Partei ANO 2011 (“akce nespokojených občanů”, Aktion unzufriedener Bürger). Die populistische teils EU-skeptische Bewegung hat gerade die Wahlen in Prag gewonnen. Ihr umstrittener Vorsitzender ist der schwerreiche Chemie- und Medienunternehmer Andrej Babiš (63, Bild links). Babiš ist bei der Justiz wegen Verdachts auf Steuerbetrug und Beeinflussung von Medien im Visier.

Was Babiš genau vorhat bleibt vorerst im Dunklen – er sei “ein Opportunist, aber kein Ideologe“, analysieren zwei Experten. Vorerst versucht er gerade in Prag eine Koalition zu schmieden und Regierungschef von Tschechien zu werden. Er wäre der achte liberale Ministerpräsident in der 27-Staaten-EU (ohne Großbritannien). Damit zöge ALDE mit den Regierenden aus der christdemokratischen Volkspartei EVP gleich als stärkster Parteienblock im Europäischen Rat. Die Sozialdemokraten stellen nur sieben Sitze.

Parteien wie ANO sollten nicht zur ALDE Party gehören und auch nicht zur Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament, meinen Kreise der “Individual Members” (IM). Diese Parteigliederung ist eine Besonderheit, weil ALDE als erste ALDE-Party-Logo-INDIVIDUALMEMBERSnach europäischem Recht anerkannte internationale Partei die Einzelmitgliedschaft eingeführt hat. Das bedeutet: jeder EU-Bürger kann ALDE-Mitglied werden kann, auch wenn er keiner liberalen Partei auf Nationalebene angehört.

Die Individual Members stellen beim ALDE-Parteikongress mehrere europaweit gewählte Delegierte. Ihren Vorstand (Steering Committee) und ihre Parteitagsdelegierten bestimmen sie via Onlinewahl transnational auf gesamteuropäischer Ebene. Das ist gelebter und in dieser Form einzigartiger Paneuropäismus – Ländergrenzen spielen keine Rolle!

Italien-ForzaItaliaDen Individual Members treten meist jüngere EU-Anhänger bei. Etliche kommen aus Ländern wie Frankreich, wo es bisher keine wirklich liberale Parteientradition gibt. Die Individual Members sind sozusagen der paneuropäische “Bürgerarm” der Liberalen, deren Dachverband bis vor Kurzem nur aus offiziellen Repräsentanten der Mitgliedsparteien bestand – von der deutschen und schweizerischen FDP über die österreichischen NEOS bis zu den britischen Liberal Democrats. ALDE streut nun via Individual Members europaweit Samen aus, Italien-ForzaEuropa-Logo-Langzuschnittdie Parteigründungen sprießen lassen. So kooperiert jetzt in Italien die buntliberale Partito Radicali mit der sozialliberalen Partei Forza Europa (“+Europa“). Der Kopf der neuen Formation, Ex-Vizeaußenminister Benedetto Della Vedova (55, Bild oben rechts): “Die wahre Zukunft Italiens spielt sich in Europa ab.”

Eine der wichtigsten Forderungen bei den Individual Members ist die Einführung transnationaler Kandidatenlisten für die kommende Europawahl. Noch werden die 751 Mandate für die oberste Volksvertretung der EU ja in 27 nationalen Wahlen bestimmt, eine paneuropäisches Votum gibt es nicht. In den Augen der Individual Members ist das eine Missachtung des EU-Vertrages von Lissabon, der die EU-Europäer als gleichberechtigte “Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ definiert (Art. 14 Abs. 2 EUV) – wozu ein gleiches grenzüberschreitendes Wahlsystem für alle gehöre.

Ein ganz neues “Sorgenkind” europäischer Liberaler ist – zu Unrecht – die FDP. Am Beginn des furiosen Christian-Lindner-Wahlkampfs hatte man innerhalb der ALDE Party zunächst gehofft, ein Freier Demokrat als deutscher Außenminister werde starke Impulse für einen Neustart der EU einbringen. Doch schon im Wahlkampf sorgten diffuse Äußerungen aus der FDP-Spitze zum Fortbestand der EU-Sanktionen gegen Russland für Erstaunen. Dann wunderten sich etliche Europaliberale über schroffe Töne gegen Reformvorschläge des EU-Hoffnungsträgers Emmanuel Macron.

ALDE-FDP-supportDass es nun durch den jähen Stopp der Berliner Sondierungsgespräche auf absehbare Zeit keine gestalterische Kraft der FDP durch Regierungshandeln in der Europapolitik kommen wird, bedauern in Europa viele. Van Baalen persönlich unterstützt den FDP-Kurs und machte das auf Twitter deutlich: “Couragierte Entscheidung von Christian Lindner!” Beobachter jedoch fragen: Verspielt die Partei der europäischen Vordenker Hans Dietrich Genscher und Walter Scheel gerade ihren guten Ruf zumindest bei Partnerparteien in Europa, die einen EU-Neustart wollen? Klare Worte aus der FDP, wie es deren Wahlprogramm 2017 darstellte, könten helfen.

Guy VERHOFSTADTEchten Kultstatus bei den Europa-Liberalen hat indessen nur ein Mann: Guy Verhofstadt (Bild links), ALDE-Fraktionschef im Europäischen Parlament. Der impulsive, rhetorisch glänzende und streitbare 64jährige Vollblutpolitiker ist in der ALDE Party das Korrektiv zum eher vorsichtigen van Baalen. Neun Jahre stand Verhofstadt, ein erklärter Europa-Föderalist, als Premierminister an der Spitze Belgiens. Als Europaparlamentarirer kanzelte er in legendären Reden den linken griechischen Regierungschef Alexis Tsipras (43) und Ungarns rechtspopulistischen Premier Viktor Orbán (54) ab – in deren Anwesenheit.(Videos: Verhofstadt gegen Orbán. Verhofstadt gegen Tsipras.)

Zum Flopp freilich wurde Verhofstadts Versuch, die EU-kritische und rechtspopulistische italienische Partei Movimento 5 Stelle (M5S / Fünf-Sterne-Bewegung) in die ALDE-Fraktion einzuverleiben – die eigenen Leute rebellierten gegen den kalten machttaktischen Pakt.

Um seine 68köpfige bunte Gruppe zusammenzuhalten, zu der auch vier ANO-Abgeordnete gehören, muss Verhofstadt großes Geschick aufbieten. Spanien-Katalonien-Puigdemont-Quelle_Parteiwebsite-AuschnittMomentan haben sich die spanischen Fraktionsmitglieder in den Haaren: Politiker von Ciudadanos, die am spanischen Staatsgefüge nichts ändern wollen, sitzen neben den unabhängigkeitsbestrebten Katalanen der Partei PDeCAT, deren Vorsitzender und abgesetzter Regionalpräsident Carles Puigdemont (Bild rechts), ein Liberaler!, gerade vor der spanischen Justiz nach Brüssel geflüchtet ist. Verhofstadt hat sich auf die Seite Madrids geschlagen, bleibt aber weiter Meister der politischen Taktik und ist die herausragende liberale Führungsfigur in Europa.

Beim bevorstehenden Europakongress der ALDE Party in Amsterdam (1. bis 3. Dezember 2017) wird sich zeigen, wie weit sich die Liberalen von Portugal bis Polen und von Sizilien bis Stockholm spreizen wollen, um dumpfem nationalistischem Populismus eine breite proeuropäische Reformbewegung entgegenstellen zu können. Bis zur Europawahl im Mai oder Juni 2019 stehen noch stimmungsmäßig wichtige Urnengänge bevor: in Italien, Ungarn, Schweden, Lettland, Belgien, Slowenien und Luxemburg. Die drei Letzteren dürften in liberaler Hand bleiben.

Der größte liberale Coup wäre allerdings, wenn van Baalen den ALDE-Beitritt der Macron-Partei “La République en Marche!” verkünden könnte. Ausgeschlossen ist das nicht, auch wenn der französische Präsident derzeit mit seiner Idee für  “Bürgerkonvente” ein eigenes europaweites Projekt durchzuziehen scheint. Dennoch: Die Drähte zwischen dem Elysee Palast in Paris und dem ALDE-Hauptquartier in Brüssel sollen glühen. Man wird sehen.

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Weiterführender Link: www.aldeparty.eu

Transparenzhinweis: Der Autor ist gewählter Country Coordinator der deutschen Einzelmitglieder bei der paneuropäischen liberalen Dachpartei ALDE und Delegierter beim ALDE-Europaparteitag

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