⇒ Inhalt dieses Blogs: Die baltische EU-Republik Estland wird 100 Jahre alt. Was macht diese Nation so besonders?
von Wolf Achim Wiegand
Hamburg/Tallinn – Als mein Großvater, Constantin Edler von Rennenkampff (*1900, Foto), im Jahre 1919 als 19jähriger ohne Eltern vor der Roten Armee aus seiner Heimat Estland nach Argentinien fliehen musste, war die baltische Republik erst ein Jahr alt. Nur zwanzig Jahre später war es mit der Unabhängigkeit wieder vorbei: infolge des geheimen Hitler-Stalin-Paktes wurde Estland zusammen mit den Nachbarnationen Lettland und Litauen 1940 von der Sowjetunion annektiert und zur sozialistischen Sowjetrepublik degradiert.
Mein Großvater, der im nahen russischen St. Petersburg zur Welt gekommen und dort auch aufs Gymnasium gegangen war, hat immer gesagt: “Ich kehre erst zurück, wenn Leningrad wieder St. Petersburg heißt.” Dieser Wunsch hat sich ihm nicht erfüllt. Mein “Abuelo”, der ein erfolgreicher argentinischer Farmer, ein “estanciero”, geworden war, starb schon 1983. Die ersehnte Namensänderung in die Stadtbezeichnung seiner Jugendzeit kam erst 1991 nach dem Zerfall der UdSSR.
Meine kurz zusammengeraffte Familiengeschichte zeigt, wie zerrieben die Länder im Baltikum geschichtlich immer gewesen sind. Richtig frei fühlten sich die Menschen in Estland, das gut 380 mal kleiner als der Riesennachbar Russland ist, erst, als die Anerkennung durch die UdSSR am 6. September 1991 kam.
Und doch sind die weniger als eineinhalb Millionen Einwohner – das sind nur wenig mehr Menschen, als die in der Stadt Köln lebenden – heilfroh, inzwischen den Schutzschirm der NATO, die Mitgliedschaft in der EU und die Gemeinschaftswährung Euro zu haben. Russland bleibt ein Unsicherheitsfaktor. Jede Regung jenseits des Flusses Narva und an anderen Grenzpunkten wird registriert und bewertet. Diese ständige Sorge überschattet ein wenig die unzähligen 100-Jahr-Feiern. Zu oft hat die Geschichte den Esten und ihren baltischen Nachbarn Lettland und Litauen böse mitgespielt.
Estland hat aus seiner Geschichte die Lehre gelernt, sich nicht treiben zu lassen, die Welt aktiv mitzugestalten. Es ist nun ein HighTech-Hub. Die junge Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid (rechts) hat kürzlich getwittert: “Wir müssen die freie Welt erhalten auf der Basis liberaler demokratischer Werte, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung. Vorübergehende Vorteile auf Kosten unserer Werte sind nichts wert.”
Selbstbewusst sind sie, die Esten, und sie wissen, ihre Werte und Interessen zu wahren. Aber immer mit skandinavisch-sprödem Charme, denn Estland ist ein nordisches Land.
Die Bindungen über die Ostsee nach Schweden, aber vor allem zum finnischen Nachbarn sind eng. Man erwägt man sogar, einen über 100 km langen Tunnel zwischen den Hauptstädten Tallinn und Helsinki zu bauen.
Das heutige Estland ist zeitgemäß, weltoffen, progressiv – und hält zugleich an Traditionen, Geschichte und Eigenheiten fest. Liberal und konservativ sind hier eine Symbiose. Mit Liebe ist die in Sowjetzeiten völlig heruntergekommeneAltstadt von Tallinn restauriert worden. Heute ist Tallinn eines der sehenswertesten Bauschmuckstücke in Nordeuropa (Foto).
Außerhalb der Städte ist Estland bäuerlich geprägt. Die Hälfte des Landes ist mit Wald bedeckt. Aber selbst beim Pilzesammeln in der Einsamkeit kann man online sein – das ist selbstverständlich und HighTech gehört zum Lebensgefühl:
- Estland ist das weltweit fortgeschrittenste Land im e-Government: selbst Bürger anderen Staaten können eine sog. e-Residency erwerben.
- Tallinn ist Sitz des NATO Cyber Defense Center of Excellence: hier lehrt, probt und koordiniert das westliche Bündnis militärische Maßnahmen gegen Cyberkriege.
- Drei Esten waren es, die die Software des kostenlosen Instant-Messaging-Dienstes Skype erfanden: er wurde schon 2003 eingeführt, 2005 für 3,1 Milliarden US$ an eBay verkauft und inzwischen blätterte Microsoft 8,5 Mrd. US$ für Skype hin.
“Kleine Nationen können es sich nicht leisten, kleine Ziele zu verfolgen – sie müssen groß denken, um Mitwirkende zu werden,” so Kaljulaid.
Sie sind stolz und im guten Sinne patriotisch, die Esten. Trotz der lange Unfreiheit spürt man weder Rache- noch Überlegenheitsgelüste. Es rührt mich, dass die in der Sowjetzeit verrotteten Wappen deutschbaltischer Familien, die seit dem 12. Jahrhundert als eingewanderte Oberschicht nicht nur reibungslos den Ton angaben, ebenso akribisch wiederhergestellt worden sind, wie die Stätten der eigenen Historie.
“Es ist doch alles miteinander verwoben und hat sich aufeinander ausgewirkt, warum sollten wir da etwas weglassen,” sagte mir ein älterer Mann auf dem “Antonius-Berg” (Tõnismägi) in Tallinn, wo die Karlskirche (Kaarli kirik) steht – zwischen 1862 und 1870 vom deutschbaltischen Architekten Otto Pius Hippius erbaut. Den souveränen Umgang mit der Historie legt besonders ein kühnes Museumsprojekt vor der altehrwürdigen Universitätsstadt Tartu ab: an der alten Betonlandebahn des einstigen sowjetischen Fliegerhorstes steht ein Bau aus Beton und Glas. Es ist gerade rechtzeitig fertig geworden, um darin den hundertsten Jahrestag der Staatsgründung zu feiern.
Natürlich hat auch Estland seine Probleme. Ein Beispiel: Voriges Jahr kam heraus, dass der 750.000fach ausgegebene elektronische Personalausweis nicht sicher war. Das hat ein wenig – aber nur ein wenig – am digitalen Image Estlands gekratzt.
Und dann ist da das Problem der russischen Minderheit (ein Viertel der Bevölkerung), einem Überbleibsel aus der Sowjetzeit.
“Die Russen” stehen bei vielen urgeborenen Esten unter Generalverdacht, sie seien die fünfte Kolonne des Kreml. ETV+, der einzige russischsprachige Sender der EU, soll die russischen Balten weniger anfällig für Propaganda aus Moskau machen. Ob das etwas nützt, solange sie gesellschaftlich und sozial daneben stehen, ist fraglich. Da ist er also dann doch noch ganz tief, ein Schatten aus der Vergangenheit.
Die Geschichte erklärt auch, warum Estland bei Energieversorgung noch nicht “grün” und das einzige EU-Mitglied ist, das unverdrossen Ölschiefer in großem Maße nutzt – “dreckiger” als Kohle ist das. Dahinter steckt die Angst, von Gas oder Öl aus Russland abhängig zu werden. Lieber Dreck machen und altmodisch bleiben, als dem Kreml hörig werden zu müssen – so denken viele in Estland.
Auf jeden Fall: Estland hat sich rasant so gut entwickelt, dass man dem lieben kleinen Land nur wünschen kann, mindestens weitere 100 Jahre zu prosperieren. Schade, dass mein Großvater das nicht mehr hat beobachten können… Er hätte wohl gerufen: “Kõlk parimad, Eesti! Elagu Eesti – elagu Euroopa!” – Viel Glück, Estland! Es lebe Estland – es lebe Europa!
Mein Großvater Constantin Edler von Rennenkampff aus dem Hause Tuttomäggi, hier in seiner neuen Heimat Argentinien
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