Brexit, Börse und die Beatles

Dieser Text ist am 1. März 2019 erschienen im Magazin Forum

Kaum einer anderen deutschen Stadt tut das Scheiden von Großbritannien so weh wie Hamburg. Anglophil zu sein, gehört in der Hansestadt zum Lebensstil. Den Brexit wickelt man trotz Herzschmerzen mit hanseatischem Pragmatismus ab.

Von Wolf Achim Wiegand

Selbst bedächtigste Hanseaten bekommen langsam das Kribbeln. Der Brexit ist fast nur noch einen Monat entfernt. Und immer noch weiß keiner, wie sich die Briten verabschieden wollen – im Guten oder im Bösen.

In Hamburg fragen sich viele Kaufleute, Reeder und der regierende Senat, was nach dem EU-Austritt Großbritanniens werden wird. Für den größten deutschen Hafen ist das kein Pappenstiel: Das Vereinigte Königreich liegt bei Exporten auf Rang vier und bei Importen auf Rang sechs der wichtigsten Handelspartner Hamburgs. „Seit Jahrzehnten haben wir mit den Briten florierend Freihandel betrieben, jetzt entsteht im Hamburger Hafen wieder eine unsichtbare Zollmauer”, seufzt ein Logistikunternehmer, der ungenannt bleiben will.

Airbus in Hamburg verarbeitet auch Material von britischen Zulieferfirmen. Vor zwei Jahren waren daher auch Prinz William und seine Frau Kate zu Gast in Finkenwerder.
Airbus in Hamburg verarbeitet auch Material von britischen Zulieferfirmen. Vor zwei Jahren waren daher auch Prinz William und seine Frau Kate zu Gast in Finkenwerder. Foto: picture alliance / Daniel Bockwoldt / dpa

Die Lager Hamburger Unternehmen füllen sich derzeit mit britischer Ware: Shortbread-Kekse, Karamellbonbons (Fudge), Dry Gin und Whisky, English Breakfast Tea, viktorianische Antiquitäten. Der Konsumgüterkonzern Beiersdorf („Nivea”) bevorratet hingegen seine Vorräte in Großbritannien, um am Markt zu bleiben, falls Körperpflegeartikel rar werden.

In der Tat: Am 29. März um 23 Uhr britischer Zeit müssen Waren bei einem No-Deal aus und nach Großbritannien wieder verzollt werden. Dann wird die Uhr zurückgedreht. Alles wird wieder so, wie vor der Silvesternacht 1973, als die Erbmonarchie nördlich des Ärmelkanals gemeinsam mit Dänemark in die Europäische Union eintrat. Für Hamburg begann damals eine ökonomische Erfolgsstory.

Vorräte britischer Erzeugnisse

Etwa 1.000 Hamburger Unternehmen unterhalten laut Zählung der Handelskammer Geschäftsbeziehungen zum Vereinigten Königreich. Rund 200 hamburgische Firmen haben dort eine Niederlassung, ein Joint Venture, eine Vertretung oder eine Produktionsstätte. Umgekehrt sitzen rund 70 britische Firmen in Hamburg. Die Zahlen verraten: Der Brexit trifft die Freie und Hansestadt weitaus stärker, als die Union der Landesteile England, Wales, Schottland und Nordirland.

Ein Containerriese verlässt den Hafen Hamburg. Bild: Wolf A. Wiegand

Laut Gutachten des EU-Ausschusses der Regionen sind 17,5 Prozent der Hamburger Wirtschaftsleistung im produzierenden Gewerbe „potenziell vom Brexit betroffen”. Dazu gehört neben dem Hafen mit unzähligen Betrieben der paneuropäische Luftfahrtgigant Airbus, der auf der Elbinsel Finkenwerder trotz des jüngsten A380-Flops milliardenschwere Bauaufträge abwickelt. Das Hamburger Endmontagewerk und sein Zulieferer Broughton sind eng verflochten: Jeder Airbus-Flügel kommt aus dem Werk in Wales. Im südwestenglischen Filton entstehen Tragflächen, Tanksysteme und Fahrwerke.

„Der Brexit wird uns hart treffen,” sagt Airbus-Chef Tom Enders. „Die Ungewissheit ist wirklich unerträglich.” Bei einem harten Austritt ohne Vereinbarung könnten zunächst keine Teile mehr über die Grenze kommen – und damit kein einziger Neubauflieger mehr aus Hamburg abheben. Eine Brexit-Taskforce mit über 100 Beschäftigten versucht das Chaos zu ordnen. Allein das hat bei Airbus schon „einen zweistelligen Millionenbetrag” verschlungen.

Aber besonders hart wird es kleine und mittlere Unternehmen treffen, die keine großen Brexit-Beraterstäbe einsetzen können, keinen Welthandel betreiben und auf den EU-Binnenmarkt fokussiert sind. Ihre größte Herausforderung: erstmals überhaupt Know-how in der Zollabwicklung aufzubauen. Die Hamburger Handelskammer schlug voriges Jahr Alarm, weil sich nur etwa die Hälfte (56 Prozent) der potenziell betroffenen Unternehmen auf den Brexit vorbereitet hatte.

„Grundsätzlich sollte sich jedes Unternehmen auf Veränderungen einstellen, insbesondere im Bereich des Warenverkehrs, und diese Vorbereitungen können umfangreich sein”, so die Handelskammer. Es gehe um neue Klauseln in Verträgen, eine Überprüfung künftig zollkontrollabhängiger Lieferketten für Lebensmittel, Gefrorenes und Medikamente, sowie um „Notfallpläne für einen harten Brexit”.

Dass die Briten es wagen könnten, die EU ohne jedes Abkommen zu verlassen – damit haben selbst abgebrühte Hamburger Geschäftsleute lange nicht gerechnet. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sieht bis zu zehn Millionen zusätzliche Zollanmeldungen pro Jahr auf seine Mitgliedsfirmen zurollen. Allein für die deutschen Autoexporte, die zu einem Großteil durch Hamburgs Hafen laufen, drohten „Mehrbelastungen von rund zwei Milliarden Euro im Jahr”, sagt Eric Schweitzer, Präsident des DIHK.

Politik und Behörden Hamburgs sind im Brexit-Dauerstress. Rund 60 Landesgesetze und Vorschriften müssen überprüft und angepasst werden. Darunter sind Anstellungsverträge britischer Staatsbürger im Zuge der endenden EU-Niederlassungsfreiheit ebenso wie der Status britischer Häftlinge. Gut 4.000 Briten leben in Hamburg, Hunderte haben die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, um Nachteilen zu entgehen.

Auch in Großbritannien selbst hat die Geschäftswelt lange geglaubt, es werde sich alles schon richten. Schweitzer: „Die Behörden im Vereinigten Königreich sind kaum darauf vorbereitet, ein Chaos im Hafen Dover zu verhindern.” Das gelte für alle englischen Ankerplätze, seien es Felixstowe, Southampton oder Portsmouth.

„Der Brexit wird uns hart treffen”

„Fairplay”, anständiges Verhalten, heißen im Hamburger Hafen seit 1905 nicht nur diverse bullige Schlepper, die Containerriesen an ihre Ladestellen bugsieren, sondern das ist in manchem Kontor auch eine Lebensart. Typisch dafür: einen Vertrag besiegelt man in Hamburg oft durch einen Handschlag, nicht per Unterschrift. Der Hals-über-Kopf-Brexit und der Politpoker in London haben in manchen Handelshäusern erstmals Zweifel in britische Fairness geweckt, was aber nicht gern zugegeben wird.

Einer der bestsortierten englischsprachigen Taschenbuchläden befindet sich in Hamburg.
Einer der bestsortierten englischsprachigen Taschenbuchläden befindet sich in Hamburg. Foto: Wolf A. Wiegand

Hamburg ist seit jeher eine besonders anglophile Stadt. Wer dem exquisiten Anglo-German Club an der Alster angehört, den britische Besatzungsoffiziere 1948 ins Leben gerufen hatten, gehört zum Establishment. Gute Beziehungen zu solventen Untertanen Ihrer Majestät Elizabeth II. gehören zum guten Ton. Schon 1266 bekamen Hamburger Kaufleute an der englischen Ostküste das Niederlassungsrecht. Sie durften lange als einzige Deutsche an der Londoner Börse handeln.

Diese Bande sind in der Stadt bis heute präsent. Sie manifestieren sich in Straßennamen wie „Englische Planke”. Ein Londoner Ingenieur installierte einst die städtische Frischwasserversorgung, das Abwassersystem und die Gasbeleuchtung. Grünanlagen wie der naturnahe „Jenisch Park” haben englische Vorlagen. Nahe der Lust- und Lastermeile Reeperbahn steht seit 1838 die „English Church St. Thomas à Becket”.

Selbst der britische Feuersturm auf Hamburg vom 24. Juli bis 3. August 1943 mit 40.000 Toten hat die gegenseitige Affinität nicht nachhaltig beschädigt. Die Briten brachten nach dem Zweiten Weltkrieg als Besatzer die Pressefreiheit nach Hamburg, das so zur deutschen Pressehauptstadt wurde. Briten etablierten Rudern, Hockey und Reiten, einige der wenigen Sportarten bei denen Hamburger ganz oben mitmischen.

Der Laden „English Books” hat eines der bestsortierten Taschenbuch-Angebote außerhalb eines nicht englischsprachigen Landes. Tausende Jugendliche sind ab den 60ern bis in die Nullerjahre hinein auf der Strecke Hamburg–Harwich mit „der England-Fähre” zum Schüleraustausch zu britischen Familien gefahren, englische Teenager – und manche Love-Story – kamen retour. Die Beatles legten im legendären Star-Club auf dem Kiez in St. Pauli den Grundstein für eine beispiellose Weltkarriere.

Behörden im Brexit-Dauerstress

Deshalb denken Hamburger wehmütig an die bevorstehende Scheidung vom Vereinigten Königreich. Besonders schmerzlich finden sie, dass die Trennung womöglich auf sehr unschöne Art und Weise kommt. Schon jetzt hat das seit dem Referendum 2016 ablaufende Brexit-Chaos in der Stadt erhebliche Flurschäden verursacht.

Der Brexit sei „nicht im Interesse Hamburgs”, sagt die „Außenministerin” des Stadtstaates, Staatsrätin Annette Tabbara. Aber sie sagt auch: Nun werde man „sich neu ergebende Chancen der Zusammenarbeit nutzen”. Alexander Kittel vom kulinarisch- kulturellen Shop „Kittel’s”, dem „Specialist for People of Good Taste”, sagte im Norddeutschen Rundfunk (NDR): „Erstmal abwarten, in Ruhe eine Tasse Tee trinken, um dann zu agieren.”

Als Hamburger versucht man eben Schlamassel hanseatisch zu lösen, also pragmatisch – der einstige Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt lässt grüßen. Typisch ist auch die Meinung des 75-jährigen Privatbankiers und Ex-Honorarkonsuls Großbritanniens, Claus-Günther Budelmann: „Selbst ein Brexit wird die besonderen Beziehungen zwischen Hamburg und dem Vereinigten Königreich niemals zerstören können.”

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