US-Präsident Donald Trump und der Brexit beflügeln den Aufbau einer EU-Armee. Die Idee ist nicht neu, wird aber in der Nato mit Skepsis begleitet. Beim Aufbau steckt der Teufel in mehr als nur einem Detail.

Von Wolf Achim Wiegand

Dieser Text ist am 26.04.2019 in FORUM – Das Wochenmagazin erschienen

Stell’ dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Dieser friedenspolitisch gemeinte Slogan könnte auf Europa schneller zutreffen, als uns lieb ist. Pessimisten behaupten, die Europäische Union gehe militärisch am Krückstock. Sie brauche daher bei einer großen Krise gar nicht erst anzutreten – zumal der bislang verlässlichste Partner USA womöglich ausfalle.

Optimisten in Europa sehen das ganz anders. Gerade die Abkehr der USA von Europa schaffe den Zündfunken für eine gemeinsame Verteidigung. Darauf ist auch die lange Zeit in dieser Frage abwartende Angela Merkel eingeschwenkt: „Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte Europäische Armee zu schaffen,” sagte die Bundeskanzlerin Ende vorigen Jahres vor dem EU-Parlament in Straßburg. „Die Zeiten, in denen wir uns vorbehaltlos auf andere verlassen konnten, die sind eben vorbei.

Aber es sind nicht nur die wortreichen Attacken aus Washington, die die alte Welt zu neuem Nachdenken über die Sicherheit angespornt hat. Es ist auch die Erkenntnis, dass Europa in Gefahr ist, zwischen den drei Weltblöcken USA, Russland und China zerrieben zu werden. Europa leistet sich derweil innere Zerreißproben: Brexit, Rechtspopulismus, soziales Auseinanderstreben.

Neben dem einkalkulierten Ausfall der USA ist ausgerechnet der Brexit ein weiterer Motor. Jahrzehntelang hatte die Atommacht Großbritannien eine Vergemeinschaftung der Sicherheit blockiert. Und schon geht alles sehr schnell. Nur Wochen nach dem Brexit-Referendum einigten sich die EU-Politiker auf die Einrichtung eines gemeinsamen militärischen EU-Hauptquartiers sowie eines europäischen Ausbildungszentrums für Piloten des taktischen Lufttransports. Auch wenn es niemand offiziell zugeben mag: Das könnte die Grundlage für eine Europäische Armee sein.

Außerdem ist ein Europäischer Verteidigungsfonds mit einem Volumen von 13 Milliarden Euro von 2021 bis 2027 gegründet worden. Kurz danach kam es zur Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, kurz: PESCO). Sie zielt auf effektivere Koordination der 27 verbliebenen EU-Armeen sowie auf die gemeinsame Entwicklung von Cyber-Kompetenzen.

Die Europäische Interventionsinitiative (European Intervention Initiative, kurz: EI2) ist ein weiteres Puzzleteil für eine künftige EU-Armee. Sie klingt nach dem möglichen Kern einer irgendwann vertieften Kooperation. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte aus EI2 heraus konkrete EU-Militäreinsätze in Krisenfällen generieren.

„Das ist keine Armee gegen die Nato”

Dass solch komplexe Militärprojekte bereits aus dem Boden gestampft worden sind, ist auch der Tatsache geschuldet, dass die EU keineswegs militärisch blauäugig ist. Sie hat ja bereits verschiedene Operationen und Stationierungen unter dem blauen EU-Sternenbanner hinter sich. Seit 2003 liefen 34 EU-Einsätze in soldatischer oder ziviler EU-Mission: auf dem Balkan, auf dem Mittelmeer, in und vor Afrika, im Irak, in der Ukraine, in Libyen, in Georgien und in Afghanistan. Seit 2007 gibt es Krisenreaktionskräfte, sogenannte Battlegroups.

In der Nato-Führung indes sieht man die militärischen EU-Einigungsversuche erkennbar skeptisch. „Es gibt keinen Gegensatz zwischen einer starken europäischen Verteidigung und einer starken Nato,” betont Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg schmallippig.

Merkel indes wischt Nato-Bedenken weg. „Das ist keine Armee gegen die Nato. Ich bitte Sie”, ereiferte sich die Kanzlerin vor dem EU-Parlament in Straßburg, als EU-Hasser unter den Abgeordneten zu pöbeln begannen. „Das kann eine gute Ergänzung zur Nato sein. Kein Mensch möchte klassische Verbindungen infrage stellen.”

Aber selbst Befürworter halten die Hürden für zu groß. Ungeklärt sind die genauen Zuständigkeiten: reine Sicherungsaufgaben wie Küsten-, Grenz- und Luftraumschutz oder auch außereuropäische Einsätze?

Der Teufel steckt im Detail: Muss es eine gemeinsame Kommandosprache geben? Wie kann man verschiedene Militärkulturen unter einen Hut bringen? Wie regelt man unterschiedliche militärische Top-down-Strukturen? Welche Uniformen sollen EU-Soldaten tragen? Und auf wen wird der Diensteid geschworen? Alles eine Nummer zu groß für eine innerlich schwache EU, meinen Pessimisten.

Mit vorne dabei beim Promoten einer Europäischen Armee sind die österreichischen Liberalen von der Partei „Neues Österreich” (NEOS). „Nur Visionen aufzuzeigen ist einfach feig,” sagt Claudia Gamon, die 30-jährige Wiener Nationalratsabgeordnete und NEOS-Spitzenkandidatin bei der Europawahl. „Sicherheit kann nicht über 27 oder 28 Armeen gewährleistet werden, denn Terrorismus und Cyberkriminalität machen nicht vor nationalen Grenzen halt.

Claudia Gamon, Foto: NEOS

In Wien stellte die NEOS-Frontfrau kürzlich gemeinsam mit dem österreichischen Ex-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (75) eine Vier-Phasen-Strategie für den Weg zur EU-Armee vor. Erster Schritt wäre die Öffnung nationaler Armeen für alle EU-Bürger, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits vollzogen hat. Auch die Bundeswehr möchte gern Soldaten aus Partnerländern rekrutieren. Im Bundesverteidigungsministerium sieht man allein in Polen, Italien und Rumänien 50.000 mögliche Bundeswehrbewerber.

Der Teufel steckt im Detail: Muss es eine gemeinsame Kommandosprache geben? Wie kann man verschiedene Militärkulturen unter einen Hut bringen? Wie regelt man unterschiedliche militärische Top-down-Strukturen? Welche Uniformen sollen EU-Soldaten tragen? Und auf wen wird der Diensteid geschworen? Alles eine Nummer zu groß für eine innerlich schwache EU, meinen Pessimisten.

Mit vorne dabei beim Promoten einer Europäischen Armee sind die österreichischen Liberalen von der Partei „Neues Österreich” (NEOS). „Nur Visionen aufzuzeigen ist einfach feig,” sagt Claudia Gamon, die 30-jährige Wiener Nationalratsabgeordnete und NEOS-Spitzenkandidatin bei der Europawahl. „Sicherheit kann nicht über 27 oder 28 Armeen gewährleistet werden, denn Terrorismus und Cyberkriminalität machen nicht vor nationalen Grenzen halt.”

Europawahl könnte die Weichen stellen

Bis 2029 sei eine gemeinsame Beschaffung militärischer Ausrüstung möglich, ist sich NEOS sicher. Aktuell unterhalten die EU-Staaten 20 Flugzeugtypen, die USA dagegen nur sechs – nur eine Zahl als Beleg dafür, wie klein-klein die größte Freihandelszone der Welt militärisch verfasst ist.

Ohne eine „wahre Europäische Armee” könnten die Europäer nicht verteidigt werden, sagte Macron dieser Tage in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1. Er stößt damit in Deutschland auf Widerhall. So wollen CDU/CSU laut Europa-Wahlprogramm bis 2030 „gemeinsame europäische Streitkräfte” schaffen. Die SPD steht für eine gemeinsame Armee zur „Stärkung europäischer Souveränität“. Bündnis 90/Die Grünen sprechen von einer „gemeinsamen europäischen Sicherheitsunion“.

Der abschließende Schritt zur EU-Armee wäre die Einrichtung einer gemeinsamen europäischen Kommandostruktur für europäische Einsätze. „Dann kann man ab 2030 den Vollausbau der Europäischen Armee mit Nachdruck angehen,” ist sich Frischenschlager sicher. Dabei setzt er auf eine „Freiwilligenarmee”, also keine Wehrpflicht. „Das bedeutet, dass jeder und jede der oder die einrückt, dies aus freien Stücken tut und im Bewusstsein, wofür man sich meldet.” Nämlich „zum Schutz der europäischen Werte, der europäischen Sicherheit, der Bürgerinnen und Bürger“.

Die FDP fordert „eine leistungsstarke, effiziente Europäische Armee unter gemeinsamem Oberbefehl und parlamentarischer Kontrolle.” Gemeint ist die Unterstellung unter das Europäische Parlament, eine historisch begründete sehr deutsche Haltung. Das bedeutet natürlich Einschränkungen, die einer Präsidialdemokratie wie Frankreich fremd sind.

Insider drängen zur Eile. Die EU müsse aus ureigenstem Interesse handeln, denn es brodele vor den EU-Außengrenzen. So sei die Entwicklung der Türkei völlig offen, ebenso wie die Machtkämpfe im Nahen Osten, in Arabien und Afghanistan. Und an der Südküste vor der EU-Grenze Mittelmeer spielen sich Migrations- und Flüchtlingstragödien in Ländern ab, die teilweise auseinanderzubrechen drohen. Ob die EU-Armee schnell entsteht oder eine Vision bleibt, das wird auch davon abhängen, welche Kräfte sich am 26. Mai bei der Europawahl durchsetzen.

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Zitate zur EU-Armee

  • „Eine gemeinsame Europäische Armee würde der Welt zeigen, dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt.”Angela Merkel, Bundeskanzlerin
  • „Die Europäer dürfen sich nicht allein auf die USA verlassen.”Emmanuel Macron, Staatspräsident Frankreich
  • „Macron hat den Aufbau eigenen Militärs für Europa vorgeschlagen. Sehr beleidigend.” Donald J. Trump, US-Präsident, auf Twitter.
  • „Reine Symbolpolitik, wie bei der Europäischen Armee, ist der falsche Weg.” Alexander Graf Lambsdorff, FDP
  • „Die Nato bleibt der Grundstock für Europas Sicherheit.” Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär
  • „Eine gemeinsame Europäische Armee würde der Welt zeigen, dass es zwischen den EU-Ländern nie wieder Krieg geben wird.” Jean-Claude Juncker, EU-Präsident