Dieser Text ist am 10. Mai 2019 in (c) FORUM – Das Wochenmagazin erschienen

Viel Feind – viel Ehr: Die Bilanz von EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager erinnert stark an dieses alte Prinzip. Jetzt will die Dänin den nächsten unmöglichen Schritt.
Entschlossen steht Margrethe Vestager auf einer kleinen Bühne im Zentrum von Budapest. „Wir stehen zu Euch!“, ruft die 51-jährige Dänin der ansehnlichen Menge zu, die am 1. Mai mit lila Luftballons, lila Parteifahnen und blaugelben Europaflaggen zum „Marsch für Europa” in die Hauptstadt Ungarns gekommen sind. Neben der EU-Wettbewerbskommissarin stehen die Grande Dame der italienischen Liberalen, Emma Bonino (71), und Katalin Cseh, die erst 30 Jahre alte frisch-fröhliche Anführerin der neuen ungarischen Oppositionspartei Momentum.
Mit dem Auftritt am Tag der Arbeit mitten im Machtgebiet von EU-Querschläger Viktor Orbán unterstreicht Vestager an diesem Tag das Anliegen der europäischen Liberalen. „Der Rechtsstaat ist keine bloße Parole“, unterstreicht sie an die Adresse des ungarischen Regierungschefs. „Das Recht ist vielmehr die Garantie dafür, dass wir die Freiheit haben, so zu leben, wie es uns gefällt!” Auch wenn Vestager keine charismatische Rednerin ist – der Satz ist wie Wasser auf die Mühlen der Oppositionellen, die es im Land schwindender Pressefreiheit schwer haben, sich Gehör zu verschaffen.

Das große Rad zu drehen, dazu ist Vestager fähig. Das hat sie nicht erst als EU-Wettbewerbskommissarin in den vergangenen fünf Jahren bewiesen, in denen sie Weltkonzernen wie Google, Amazon oder Apple die Daumenschrauben anlegte. Freundlich und verbindlich, aber knallhart.
Der Trip von Brüssel nach Budapest war Teil des Europawahlkampfes, den die liberale Parteienallianz ALDE Party mit dem Ziel entwickelt hat, nach dem 26. Mai zu einer tonangebenden politischen Kraft im EU-Parlament zu werden. Das Ziel, die zahlenmäßig größte Fraktion zu stellen, dürfte zwar unerreichbar werden. Aber der zweite oder dritte Platz wären schon dafür geeignet, mitzuentscheiden, wer die Nachfolge von Jean-Claude Juncker in der Leitung der Europäischen Kommission antritt.

Bereits in ihrer Heimat Dänemark scheute die studierte Ökonomin keinen Konflikt. Sie war Parteivorsitzende und Fraktionschefin der sozialliberalen Partei Det Radikale Venstre (RV). Danach wurde sie mehrmals Ministerin. Ihre Ressorts: Bildung, Kirchen, Wirtschaft und Inneres sowie Vize-Regierungschefin.
Vestager gilt als die Geheimwaffe der europäischen Liberalen. Gäbe es parallel zum European Song Contest (ESC) einen Politwettbewerb, hätte sie Gewinnchancen. Obwohl sie nur ein Kopf im siebenköpfigen multinationalen Spitzenteam der ALDE Party ist (FDP-Spitzenkandidatin Nicola Beer ist auch dabei), gibt es keinen Zweifel, dass die Dänin mit der Kurzhaarfrisur die eigentliche Nummer eins ist. Und es gilt als gesetzt, dass Vestager die EU-Kommission anführen soll, wenn die politische Konstellation das zulässt.
„Danish Dynamite” und alles andere als konfliktscheu
Mehrmals erregte Vestager Aufsehen. Ausgerechnet als Kirchenministerin geriet die Pfarrerstochter ins grelle Lampenlicht, als herauskam, dass ihre älteste Tochter Maria ungetauft war. Trotz vielfacher Kritik und Anfeindungen blieb Vestager standhaft bei ihrer Meinung, der Nachwuchs solle im Erwachsenenalter selbst über die Religionszugehörigkeit entscheiden.
Die Frau aus Westjütland – das ist der dünenreiche Landstrich an der Nordseeküste – knickte auch nicht ein, als sie in einer Regierung mit den Sozialdemokraten eine harte Sozialreform durchziehen musste. Am schwierigsten war dabei das Zusammenstreichen der Bezüge von Langzeitarbeitslosen.

EU-Kommissarin wurde die taffe Liberale 2014 auf Vorschlag der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt. Damit schickte die erste weibliche Ministerpräsidentin Dänemarks eine Frau nach Brüssel, die sich
ähnlich wie das dänische Fußball-Nationalteam sehr schnell als „Danish Dynamite” erwies. Vestager ging an vielen Fronten auf Konfrontationskurs.
Eines ihrer ersten „Opfer” war der damalige EU-Kommissar für Digitales, Günther Oettinger. Vestager verweigerte dem Deutschen die Fusion großer Telekommunikationsunternehmen. Dann kamen Lkw-Hersteller dran wie Daimler, Volvo und MAN sowie Fluggesellschaften, Ölkonzerne und Banken – sie alle kamen unter die Kandare der couragierten Dänin, die Mitarbeiter als zupackend, ehrgeizig und kantig schildern.
Den größten Kampf lieferte sich Vestager mit Google. Sie brummte dem US-Riesen Google ohne Wimpernzucken eine Rekordstrafe in Höhe von 4,3 Milliarden Euro auf. Das amerikanische Magazin „Time” verpasste der mächtig gewordenen Dänin daraufhin den Titel „Googles schlimmster Alptraum“. Denn nur ein Jahr zuvor hatte Vestager der Datenkrake aus dem Silicon Valley bereits 2,42 Milliarden Euro abgeknöpft – wegen unerlaubten Ausnutzens seiner Dominanz beim mobilen Betriebssystem Android.
Kann Vestager nun nach dem höchsten Amt der Europäischen Union greifen? Auf Anhieb nicht. Umfragen sagen für die Europawahl keinen Durchmarsch der europäischen Liberalen voraus.

Und doch könnte sich der nie öffentlich ausgesprochene, aber heimliche Traum Vestagers erfüllen. Dann nämlich, wenn die seit Jahrzehnten in Brüssel herrschende große Koalition zwischen Sozialdemokraten und Konservativen rechnerisch platzt. Das ist gut möglich, wenn sich genügend nationalistische Populisten durchsetzen.
Dann wären Vestagers Liberale womöglich die Dritten im gemäßigten europäischen Ruderboot und die unter der Dachmarke ALDE zusammengeschlossenen EU-Liberalen könnten die Königsmacher spielen. Ihr Preis gegenüber Sozialdemokraten wie Christdemokraten könnte sein, dass erstmals eine Liberale und erstmals eine Frau in Brüssel ganz nach oben steigt. Nichts ist dieser Tage unmöglich. Zudem hat Vestager Erfahrung mit Dreierkonstellationen gesammelt, als dänische Ministerin in einem Kabinett aus ihrer sozialliberalen Partei Det Radikale Venstre, den Sozialdemokraten und der linken sozialistischen Volkspartei (Socialistisk Folkeparti).
Unterdessen kämpft Vestager weiter. „Let’s go!” – „Lasst uns aufbrechen!” ruft sie vom Rednerpult den Oppositionellen zu, bevor sie am Tag der Arbeit mit an die 1.000 Ungarn zum Budapester „Marsch für Europa” aufbricht. Ein Rückzug ins „hyggelig” ist für die sportive Frau kein Lebenstraum.
„Hyggelig” nennen die Menschen in ihrer sozialstaatgeprägten Heimat Dänemark ihren idealen Lebensstil: gemütlich, geborgen, stressfrei. Aber Margrethe Vestager will nicht bei Tee und Keksen auf der Couch sitzen. Sie will durchstarten.
