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Mit ihrem müden Europawahlkampf haben die demokratis­chen Parteien eine riesige Chance ver­passt

Von Wolf Achim Wie­gand

Hamburg/Brüssel (waw) – Frage nach Europa und Du kriegst als Antwort ein großes Gäh­nen. Sel­ten war ein Wahlkampf lang­weiliger als der diesjährige um Europa. Wir schreiben das Jahr 2019, die Europäis­che Union wankt von Krise zu Krise. Die Parteien indes ver­schlafen die große Chance, in dieser Sit­u­a­tion wieder Lust auf Europa zu ent­fachen. Zehn­tausende Plakate, Mil­lio­nen Fly­er sowie teure Werbespots – alles für die Katz?

Dabei geht es im Europawahlkampf um etwas. Näm­lich um über eine halbe Mil­liarde Men­schen in (noch) 28 Län­dern. Es geht darum, wie unsere Zukun­ft ausse­hen soll. Vere­inigte Staat­en von Europa? Ein Europa der Natio­nen – oder der Regio­nen?

Sich­er, dieser einzi­gar­tige Staaten­ver­bund vom Nord­kap bis Neapel und von Por­tu­gal bis Polen ist eigentlich ein Erfol­gsmod­ell. Doch wie bei jedem Haus, das man lange bewohnt, kommt irgend­wann unweiger­lich der Zeit­punkt für eine Ren­ovierung. Und zwar nicht nur mit Tünche, son­dern mit Kräf­ti­gung der Grund­mauern. Europa braucht neue Fun­da­mente: ein starkes Par­la­ment, Zügigkeit bei Entschei­dun­gen, aus­ge­wo­gene Bal­ance zwis­chen Zen­tral­is­mus und Region­al­ität. Das alles befind­et sich im Wanken.

Im Hand­buch jeden Krisenkom­mu­nika­tion­s­man­agers ste­ht, dass es in her­aus­fordern­den Zeit­en wichtig ist, die The­men­führerschaft zu erlan­gen. Im Falle Europas heißt das: wer den Diskurs über die europäis­che Malaise anführt, der hat Ein­fluss darauf, wie es in der EU weit­erge­ht und wohin die Reise unseren Kon­ti­nent führen wird.

Joachim Gauck hat als Bun­de­spräsi­dent gesagt: „Mehr Europa fordert mehr Mut von allen.“ Doch anstatt beherzt in die von schrillen Pop­ulis­ten ange­heizte Debat­te einzu­greifen, scheinen die demokratis­chen Parteien weit­ge­hend in Mut­losigkeit ver­fall­en zu sein. Das ist kein beson­ders gutes Rezept gegen die Laut­sprech­er dieser Welt, die Halb­wahrheit­en zur Real­ität erk­lären und aggres­siv Falschmel­dun­gen streuen, um Men­schen zu verun­sich­ern.

Der selb­ständi­ge Poli­tik­ber­ater Johannes Hill­je (Buch: „Plat­tform Europa“) hat darauf hingewiesen, dass die über­wälti­gende Mehrheit der Deutschen hin­ter der EU-Mit­glied­schaft ste­he. Aber: gle­ichzeit­ig wün­scht sich eine Mehrheit klare Refor­men. Diese Verän­derungs­botschaften fehlen auf den Plakat­en,“ kri­tisiert Hill­je zu Recht. Stattdessen dominieren Plat­titü­den. #europaist­dieant­wort twit­tern die einen. „Sicher­heit ist nicht selb­stver­ständlich“, posten belehrend die anderen. Banal­itäten anstatt Begeis­terung.

Nur zu kom­mu­nizieren, dass die EU eine tolle Sache ist – das genügt nicht, um fanatis­chen EU-Has­sern und antieu­ropäis­chen Het­zern beizukom­men. Denn die zie­len ihre spitzen Slo­gans direkt ins Herz der Men­schen: „Geht’s noch Brüs­sel?“ Das appel­liert an fest­sitzende Vorurteile und weckt schw­er wieder einz­u­fan­gende neg­a­tive Emo­tio­nen.

Trotz über­wiegen­der mil­lio­nen­fach­er EU-Sym­pa­thie gibt es immer noch zu viele mehr Men­schen, die mit „Brüs­sel“ wenig anfan­gen kön­nen. Es ist ein Grum­meln im Bauch. Dieses Unwohl­sein empathisch aufzu­greifen und mit Begeis­terung und Frische für neue Europa-Konzepte zu wer­ben, wäre bess­er gewe­sen als die Verabre­ichung von Schlaftablet­ten. Dieses Mal sind es glühende Europäer, die zum Europaver­druss beitra­gen,” schreibt Jacques Schus­ter, der Chefkom­men­ta­tor der WELT. Und fragt: “Ist es das wert?

Die näch­sten fünf Jahre wer­den darüber entschei­den, welchen Platz wir Europäer kün­ftig zwis­chen den schwieri­gen Weltak­teuren USA, Chi­na und Rus­s­land ein­nehmen wer­den. Die Europäis­che Union muss enorme län­derüber­greifende Her­aus­forderun­gen schul­tern. Kli­mawan­del, Migra­tions­be­we­gun­gen, Fol­gen der Glob­al­isierung und mehr. Das wird schwierige erk­lärungs­bedürftige Entschei­dun­gen erfordern.

Gelin­gen kann das Pro­jekt Europa nur, wenn die Men­schen mitziehen. „Europa wächst nicht aus Verträ­gen. Es wächst aus den Herzen sein­er Bürg­er. Oder gar nicht.“ Das sagte der ein­stige Bun­de­saußen­min­is­ter Klaus Kinkel. Um die Herzen der Europäer zu erre­ichen bedarf es eines Neustarts in der Europäis­chen Union.

Die demokratis­chen Parteien in Deutsch­land haben die Chance ver­passt, bre­ite Teile der Bevölkerung in das Rin­gen um die Zukun­ft Europas einzubeziehen, wie es der franzö­sis­che Staat­spräsi­dent Emmanuel Macron zum Beispiel mit der Ein­rich­tung von Bürg­erkon­sul­ta­tio­nen vorgeschla­gen hat. Lei­der. Schade.

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  • “Europa ist unsere Zukun­ft, son­st haben wir keine.” Hans-Diet­rich Gen­sch­er, Lib­eraler
  • “Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts.” Willy Brandt, Sozialdemokrat
  • “Wer an Europa zweifelt, der sollte Sol­daten­fried­höfe besuchen!” Jean-Claude Junck­er, Kon­ser­v­a­tiv­er