Wir werden damit leben müssen: Die Rechtspopulisten sind Europas neue Opposition. Das muss nicht nur schlecht sein.
Brüssel / Hamburg (waw) – Es ist gekommen, wie es kommen musste. Die Rechtspopulisten haben bei der Europawahl einen historischen Sieg errungen. Spätestens jetzt ist klar: die bislang in der EU-Volksvertretung nur von skurrilen Anti-EU-Einzelkämpfern herausgeforderten Proeuropäer haben es ab sofort mit einer geballten Opposition zu tun. Aber: das muss nicht nur schlecht sein.
Zu lange nämlich haben wir uns in der Sicherheit gewogen, das Projekt Europa sei unangefochten. Ein Trugschluss, wie man seit Jahren ahnen konnte. Doch wir alle haben die von Nationalwahl zu Nationalwahl deutlicher zutage getretenen Menetekel zu leichtfertig abgetan. Teils mit unnötiger Arroganz.
Der „Witz“ ist: das Europäische Parlament könnte aus dem Wahl-Durchbruch der Anti-Europäer nicht geschwächt hervorgehen, wie viele meinen, sondern in einem gewissen Sinne gestärkt. Wieso?
Zwar werden wir sehen, dass weitere Lautsprecher vom Zuschnitt eines Nigel Farage versuchen werden, in der einzigen direktdemokratisch legitimierten EU-Institution aufzudrehen. Ja, sie werden versuchen, sich schlagkräftig zusammenzuballen, um beständig Sand ins Getriebe des Brüsseler Betriebes zu streuen. Aber: das extrem rechte Lager Europas hat einen einzigen Punkt, der es eint: die Abscheiú gegen die EU von hete und die Flüchtlinge. Ansonsten herrscht auf vielen Themen – etwa in der Umweltpolitik – ein krauses Durcheinander.
Die Chance der Pro-Europäer liegt darin, nun Empathie für jene Millionen Menschen aufzubringen, die 25 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht immer noch nicht von seinem Sinn überzeugt zu sein scheinen. Die brauchen jetzt rasch einleuchtende Zukunftsaussichten. Nur so kann nationalistischen Schalmeien ein anderer Sound entgegengebracht und verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden.
Hier muss sich die EU neu aufstellen:
- das Europaparlament braucht alle Rechte einer Volksvertretung ,
- das lähmende Mehrheitsprinzip der Regierungschefs im Europäischen Rat muss weg,
- wichtige Unionspläne müssen zur Realität werden, etwa die Sicherung der Außengrenzen, eine gemeinsame Verteidigung und Außenpolitik sowie echte EU-Zuständigkeiten für praktikable Umwelt-, Energie- und Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik usw.
Und dann muss endlich die drängende Frage beantwortet werden, wohin die Reise gehen soll. Helmut Schmidt hatte unrecht, als er meinte, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Denn ohne Perspektive auf das Morgen macht das Heute nur wenig Sinn.

Europa muss jetzt daran arbeiten. die Europäische Union unter beteiligung seiner Bürger, zu mehr als nur einem Staatenclub zu machen. Weitere Höhenflüge des Rechtspopulismus können nur abgewendet werden, wenn innerhalb von fünf Jahren überzeugende Antworten auf die Frage gefunden werden, wie es mit Europa weitergeht. Das erfordert politische Innovationskraft der demokratischen Parteien Europas.
Lasst uns also darüber streiten, was für ein Europa wir wollen – die Vereinigten Staaten von Europa, ein Europa der Regionen oder ein Europa nach dem Motto „Weiter so wie bisher“? Lasst uns darüber nicht wie bislang in kleinen informierten Zirkeln reden, sondern das Thema selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen – zu den Bürgerinnen und Bürgern. Dafür bieten sich Bürgerkonsultationen an, wie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron es vorschlägt. Das Europäische Parlament könnte dafür die politische Bühne bieten.

“Krankheit Europas: seine Pessimisten.” Jaques Delors
Die Anwesenheit vieler EU-kritischer Geister darf jedenfalls nicht zur Lähmung in Brüssel und Straßburg führen. Im Gegenteil: die Nörgler sind eine großartige Chance. Denn jetzt stehen die EU-Befürworter im Hohen Hause unter Dauerbeobachtung. Sie müssen liefern und das europäische Haus auf neue Grundmauern stellen, wollen sie nicht riskieren, dass die Wähler und Wählerinnen bei nächster Gelegenheit den EU-Abriss durch Nationalisten in die Wege leiten.
Der niederländische Politphilosoph Luuk Johannes van Middelaar, einst Mitglied des Kabinetts von Herman Van Rompuy, dem ersten Präsidenten des Europäischen Rates, sagt: Es werde im Europaparlament “geringeren Raum für Hinterzimmerabsprachen, …sondern offenere Themendiskussionen und vielleicht auch mehr unterschiedliche Stimmen“ geben. Und das ist auch gut so. Denn nun gibt es den Zwang zum öffentlichen Reagieren und – hoffentlich – zu leidenschaftlichen Debatten. Genau das ist jetzt nötig.