Plädoyer für beherzte Schritte in Richtung einer echten Europäischen Armee

Von Wolf Achim Wiegand (Text ist erschienen in THE EUROPEAN)

Hamburg/Brüssel (waw) – Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, den schon lange kursierenden Plan zum Aufbau einer Europäischen Armee in die Tat umzusetzen? Die Europawahl ist Vergangenheit, die Mehrheitsverhältnisse in Brüssel und Straßburg sind klar und die Wunden sind geleckt. Nun liegt eine Legislaturperiode von fünf Jahren vor uns, in denen die 28 (bald 27) Staats- und Regierungschefs der EU sowie das Europäische Parlament und die bald neu aufgestellte Europäische Kommission handeln können – und müssen.

EP Plenary – Statement by the President of the Commission

Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat schon Ende vergangenen Jahres an die Europäer appelliert, weltpolitikfähig zu werden – „vor allem im Verteidigungsbereich“. Denn: „Wir können uns nicht auf Verbündete allein verlassen. Wir müssen selbst was tun, um unsere Sicherheitsinteressen wahren zu können.“ Es könne nicht hingenommen werden, dass wir uns in Europa 178 Waffengattungen leisteten, verglichen mit nur 30 in den USA. Experten schätzen, dass der Mangel an Zusammenarbeit vermeidbare Kosten von jährlich 21 Milliarden Euro verursacht.

Mit seiner Mahnung, die europäischen Heere effizienter und stärker zu machen, ist Juncker in den meisten europäischen Hauptstädten auf grundsätzliche Zustimmung gestoßen. Und es hat sich auch tatsächlich etwas getan, etwa in Richtung von mehr militärischer Koordination und abgestimmterer Beschaffung. Das wurde unter anderem möglich, weil sich das stets unter Ausnutzung des Einstimmigkeitsprinzips bremsende Großbritannien von der EU abgesetzt hat.

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Der Wirtschaftsgigant EU tritt in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik oftmals wie ein Zwerg auf. International hochgefährliche Brandherde bleiben unbearbeitet liegen. Dazu gehört das militärische Vordringen der Volksrepublik China zwischen Südchinesischem Meer und Horn von Afrika ebenso, wie die Expansion Russlands an den klimageschädigten und somit eisfrei werdenden Regionen am Südrand der Arktis oder rund um das Mittelmeer. Dazu kommen Bedrohungen durch die nach wie vor wuchernden Terrornetze in Arabien und Afrika. Oder der längst tobende Hybrid- und Cyberkrieg.

Doch noch ist die lähmende Einstimmigkeitsregel nicht beseitigt. Dabei wäre das ohne große Umstände möglich. Etwa nach Artikel 31 (3) des Europäischen Vertrages von Lissabon. Danach kann der Europäische Rat jederzeit – allerdings einstimmig – beschließen, bei welchen Themen er mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.

Es muss daher dringend diskutiert und entschieden werden, welche Strukturen der europäische Staatenverbund braucht, um die Verzahnung der nationalen Verteidigungspolitiken voranzutreiben. Solche Kooperationsanstrengungen seien notwendig, weil sich das politisch-strategische Gleichgewicht der EU „nachhaltig verändert“ habe, warnen Wissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer gerade erschienen Publikation über „Die EU-Kommission als sicherheits- und verteidigungspolitische Akteurin“. „Am Ende …muss die Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik zu einer Europäischen Verteidigungsunion stehen,“ raten die Autoren Ronja Kempin und Peter Becker. Es gehe darum, Verteidigungskompetenzen auf die EU zu übertragen und auf „rüstungs­politische Sonderreservate“ der Mitgliedsstaaten zu verzichten.

Die abtretende EU-Kommission hat den Weg zur – freilich so offiziell nie benannten – Europäischen Armee aus gutem Grunde behutsam beschritten. Damit hat das Juncker-Team viele auf dem Pfad liegende nationale Schlaglöcher umgangen. Doch nun, mit der Neubildung des obersten EU-Exekutivorgans, gibt es die Chance, einen entschlossenen Marschtritt einzulegen.

Die “Verzwergung Europas”, wie sie der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen beklagt, muss beendet werden. Wir brauchen als Fernziel eine schlagkräftige Europäische Armee. Angesichts einer immer instabileren und unfreundlicher werdenden Nachbarschaft können wir es uns einfach nicht mehr leisten, als wirtschaftspolitischer Riese ohne weitreichende wehrhafte Krisenabwehr dazustehen.