Großbritannien hat einen neuen Regierungschef und es ist der schillerndste, der je 10 Downing Street betreten hat… Ein Porträt:
Von Wolf Achim Wiegand (Text ist mit geringen Abwandlungen erschienen bei FORUM – Das Wochenmagazin)
London / Hamburg (waw) – „Sie sind ein egozentrischer, aufgeblasener Idiot – verschwinden Sie aus der Öffentlichkeit!“ Mit diesen Worten entrüstete sich bei einer Live-Sendung der BBC vor einigen Jahren eine Anruferin über Boris Johnson. Der war damals konservativer Bürgermeister von London und hatte bereits den Ruf als Paradiesvogel der britischen Politik weg.
Seit heute ist dieser Boris Johnson Premierminister des Vereinigten Königreiches.
Für viele Beobachter ist der 55jährige ein kauziger Sonderling. Kein anderer Politiker in London fällt so sehr auf, kein anderer spaltet so stark. Die einen hassen ihn bis aufs Blut, die anderen jubeln ihm frenetisch zu.
“Johnsons Politik besteht aus falschen Versprechungen, Pseudopatriotismus und Ausländerbeschimpfung”
Guy Verhofstadt, Brexit-Koordinator des Europäischen Parlaments (Liberale)
Wer aber ist dieser Mann mit den Wuschelhaaren wirklich, der vollständig Alexander Boris de Pfeffel Johnson heißt, dessen Krawatte meistens schief hängt und der sich mit bärenhaften Schritten leicht nach vorne gebeugt vorwärtsbewegt – immer einen vorlauten Spruch auf den Lippen?
Boris Johnsons Vorfahren sind illuster. Urgroßvater Ali Kemâl war ein weitläufiger Verwandter der Queen. Bekannt wurde er als letzter Innenminister des untergegangenen Osmanischen Reiches. Als Gegner der türkischen Befreiungsbewegung ordnete Kemâl die Verhaftung des späteren Staatsgründers Kemal Atatürk an, den er „Penner“ nannte – und wurde dafür zu Tode gelyncht. Die überlebende Familie Kemâl floh nach London, wo der Sohn des Ermordeten den englischen Namen „Wilfred Johnson“ annahm – hier beginnt die englische Linie der Johnsons.
Hyperaktives Elternhaus
Boris Johnsons Vater Stanley, ein Spezialist für Umweltfragen, heiratete die auch im Alter noch hochtalentierte Malerin und Englisch-Dozentin Charlotte Maria Offlow Johnson Wahl. Die Mutter des heutigen Premiers war damals die erste verheiratete Engländerin mit akademischem Grad. Charlotte siedelte nach New York über, als ihr Mann einen Job am Sitz der Weltbank erhielt. Dort kam Boris 1964 als erstes von vier Kindern zur Welt, weshalb er bis zum freiwilligen Verzicht vor wenigen Jahren auch die US-Staatsbürgerschaft besaß.
Als Boris ein kleines Kind war, erkrankte seine Mutter an schweren Zwangsstörungen (OCD), vermutlich einer Folge von Überlastung. Innerhalb von zehn Jahren hatte Charlotte geheiratet (mit 21 Jahren), ihren Uni-Abschluss gemacht, vier energische Kinder geboren und war 17 Mal umgezogen. Es folgten Therapien und die Scheidung.
Zurück in London publizierte Boris ruheloser Vater mehrere Fachbücher und Romane und ging in die Politik. In der 1. Wahlperiode des Europäischen Parlaments (1979 – 1983) war Johnson sen. konservativer EU-Abgeordneter im Ausschuss für Umweltfragen. Politik war dem künftigen Hausherrn von 10 Downing Street also bereits mit der Muttermilch in die Wiege gelegt.
Dass Boris Johnson, ein Mann der scharfen Zunge ist, stellte sich schon als Student heraus, als er 1986 an der ehrwürdigen Universität von Oxford zum Präsidenten des renommierten Debattierzirkels Oxford Union aufstieg. Später wurde er Journalist bei der renommierten Zeitung „The Times“, wurde jedoch wegen Verfälschung eines Zitates ausgerechnet seines Patenonkels, des Historikers Colin Lucas, entlassen. Weiter ging es als Brüssel-Korrespondent des konservativen Blattes “The Daily Telegraph” mit EU-skeptischen Kommentaren, was er 1994 bis 2005 als Herausgeber von „The Spectator“ fortsetzte, dem bissigen und ältesten Magazin englischer Sprache.
Bürgermeister der Busse
In die aktive Politik trat Boris Johnson 2001 mit seiner Wahl zum Unterhausabgeordneten von Henley ein, einem traditionsbewussten Wahlkreis nahe von London. Dort gibt sich jedes Jahr zur Henley Royal Regatta die britische Oberschicht ein Stelldichein. Weitere politische Karrierestationen waren Rollen als Schattenminister der konservativen Opposition. Dabei vertrat er z.B. bei Fragen der Gleichgeschlechtlichkeit (LGBT) sozialliberale Positionen.
Boris Johnsons Durchbruch war die Wahl 2008 zum Bürgermeister der Megametropole London (fast 14 Millionen Einwohner). 2012 war er der Gastgeber für die Olympischen Sommerspiele. Inhaltlich trat der konservative Hüter eines Jahresetats von rund drei Milliarden Euro u.a. durch ein Alkohol-Verbot in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie durch die Einführung eines öffentlichen Fahrrad-Leihsystems und der Förderung des Londoner Finanzsektors hervor.

Das Engagement Johnsons für den Austritt aus der Europäischen Union begann 2015 nach der Wahl zum Unterhausabgeordneten von Uxbridge and South Ruislip – er gewann den Wahlkreis mit nur einem Prozent Vorsprung gegen den Kandidaten der sozialistischen Labour Party. Als Sprecher der Anti-EU-Kampagne von 2016 setzte er erfolgreich die Brexit-Volksabstimmung durch und galt seitdem als potenzieller Regierungschef. Eines von Johnsons Hauptargumenten war, die EU ziele auf einen Superstaat: „Napoleon, Hitler, verschiedene Leute haben das versucht, und es endete immer tragisch.“
Ein “First Girlfriend” als Dame des neuen Premiers?

Das Amt an der Spitze des Vereinigten Königreiches ergatterte aber nicht Johnson, sondern die damalige Innenministerin Theresa May, was ihn wurmte. May versuchte den vorlauten Dauerkonkurrenten einzubinden – als Außenminister und Chef des legendären britischen Geheimdiensts MI-6. Doch als Chefdiplomat Londons fiel Johnson entgegen aller diplomatischen Gepflogenheiten immer wieder durch verbale Ausrutscher auf.
2018 zog Johnson selbst die Notbremse und verabschiedete sich aus dem Kabinett. Damit verschaffte er sich mehr gemeinsame Zeit für seine Freundin Carrie Symonds. Die 31jährige taffe PR-Frau wird in den Medien bereits als Großbritannien „First Girlfriend“ tituliert. Die Beziehung scheint gefühlsstark zu sein, guckte doch erst vor wenigen Tagen die Polizei nach dem Rechten, als besorgte Anwohner zu nachtschlafender Zeit lautstarkes Schimpfen und zersplitternde Teller aus der Wohnung hörten. Sie nennt ihn übrigens „BoJo“.
Statt Jubel auch viel Stöhnen
Die wahre Absicht hinter „BoJos“ Rücktritt war jedoch, ein Aufmarschgebiet für den Sprung ganz nach oben zu schaffen. Den hat er nun geschafft. Nun wird sich herausstellen, ob der Mann der großen Worte – er will eine gigantische Ärmelkanalbrücke zwischen Großbritannien und Frankreich bauen – im Praxistest liefern kann. Wird er sich tatsächlich weigern, wie angekündigt, die 44-Milliarden-Euro-Schlussrechnung der EU zu begleichen?

