Alexander Boris de Pfeffel Johnson hat seinen Landsleuten sein wichtigstes Weihnachtsgeschenk bereits vor die Tür gelegt, den #Brexit… 🇪🇺 doch durchatmen kann der Premierminister nicht, berichte ich in Forum – Das Wochenmagazin
Von Wolf Achim Wiegand
London (waw) – Wäre Alexander Boris de Pfeffel Johnson der Weihnachtsmann, könnte er sich diesen Heiligabend ganz in Ruhe zurücklehnen. Denn das wichtigste Geschenk hat der Premierminister seinen Landsleuten bereits vor die Tür gelegt. „Ich werde Euch ein Jeremy Corbyn-neutrales Fest bescheren!” hatte der 55-jährige Konservative im Wahlkampf versprochen. Nun hat sich der sozialistische Oppositionsführer selbst ins Aus bugsiert – mit dem schlechtesten Ergebnis für die Labour Party seit Jahrzehnten. BoJo muss das Hauptgeschenk am 24. Dezember nicht mehr ausliefern.
Entspannte Festtage dürfte Boris Johnson dennoch nicht haben. In seinem Amtssitz 10 Downing Street liegen immer noch diverse Päckchen. Aus europäischer Sicht am eilbedürftigsten ist die Kiste mit der Aufschrift „Brexit”.

Zwar ist klar, dass die Regierung in London mit ihrer haushohen parlamentarischen Mehrheit wie angekündigt am 31. Januar aus der Europäischen Union austreten wird. „Ohne Wenn und Aber,” hat Johnson angekündigt. Aber: wie werden die konkreten Bedingungen aussehen – wird es überhaupt einen geordneten Deal geben? Diese Verfahrensfragen muss der quirlige Wuschelkopf im Eiltempo mit den EU-Regierungschefs, der Kommission in Brüssel und dem Europäischen Parlament klären.
Der Brexit-Streit, den nicht nur Johnson „zunehmend trocken” findet, ist aber keineswegs die größte Herkulesarbeit, die der Regierungschef jetzt anpacken muss. Das Votum, das ihm die Wähler gegeben haben, verpflichtet den einstigen Bürgermeister von London dazu, sein Land geopolitisch völlig neu aufzustellen. Der Inselstaat muss nach der Loslösung von der EU seine Zukunft in der Weltgemeinschaft finden.
Geschrumpftes Land sucht Anlehnung
Dabei steht das Königreich von Elisabeth II. recht nackt da. Ihm fehlt die gemeinsame Kraft eines Länderbundes mit einer halben Milliarde Menschen. Wie soll Großbritannien nun internationale Freihandelsabkommen abschließen, wie es Johnson und seinem ähnlich lautstarken Verbündeten Donald Trump vorschwebt? Das wird für eine neue nationale Geschäftsidee kaum ausreichen und würde eine viel größere Abhängigkeit schaffen, als sie die auf Mittelmaß geschrumpfte Ex-Weltmacht je durch die EU erleiden musste.
Die Power wird Großbritannien künftig ausgerechnet in einer Zeit fehlen, in der aggressive chinesische Wirtschaftsoffensiven und grimmige US-Eigenbrötelei dominieren. Auch im ehemals blühenden Commonwealth gibt es wenig gute Investoren für Johnson. Die meisten dieser einstigen Kolonien sind Nationen, die noch nie richtig geblüht haben. Und für das über eine Milliarde Menschen große Indien als einziger aufstrebender Macht in der losen Verbindung souveräner Staaten ist das 15-fach kleinere Land kaum ein adäquater Partner in Europa.
Welche Strategie also wird Johnson mit seinem Start-up einschlagen? Der deutsche Außenminister Heiko Maas hofft auf weitere Kooperation mit der EU: „Wir wollen, dass Großbritannien auch nach dem Brexit ein enger Partner bleibt – wirtschaftlich genauso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik.” Allerdings: Genau in diesen Bereichen hat London immer gebremst. So scheiterte die Idee einer gemeinsamen europäischen Verteidigung immer am britischen Veto.
Deshalb ist mancher Politiker in der EU über den Abzug durchaus erleichtert. Vor allem Frankreich, die in Kürze einzige EU-Atommacht, sieht neuen Manövrierraum für eine europäische Neuausrichtung neben der Nato (in der London verbleibt).
Vielleicht wird Johnson sein Heil darin suchen, die Insel zu einer Art Steueroase umzuformen. Er deutet an, günstige Produktionsmöglichkeiten für ausländische Firmen am Tor der EU zu schaffen. Ein Billigland zu werden, könnte ihm das zweite große Ziel erschweren, nämlich die Bekämpfung des enormen Abstands zwischen Arm und Reich.
Während in der City von London das Banken- und Börsenmetier blüht, verwelken im Norden Englands ganze Städte. Sowohl die marktradikale Konservative Margaret Thatcher (gestorben 2013) noch der „Gerhard Schröder Großbritanniens” Tony Blair (Labour) haben dort das Ende der Kohleindustrie und vormals weltweit führender Werften abfedern können. Die relative Armut im Lande steigt und das Schul- und Gesundheitssystem sind bis heute strukturell unsozial.
Johnson möchte nun einen „Heilungsprozess” beginnen lassen. Es besteht jedoch die Chance, dass er alte Wunden neu aufreißt – nicht nur in sozialer Hinsicht. Denn das (noch) „Vereinigte” Königreich ist nicht nur sozial, sondern auch geografisch zerrissen. Bei der Wahl fiel praktisch der gesamte Norden in die Hände der sozialdemokratischen Nationalpartei Schottlands (SNP). Regierungschefin Nicola Sturgeon ist leidenschaftlich proeuropäisch und nimmt den Brexit zum Anlass für staatliche Unabhängigkeit zu fighten.

Schottlands Sturgeon ist derzeit die härteste Gegnerin Johnsons. Ihren haushohen Wahlsieg deutet sie als klare Bestätigung ihrer Forderung nach einer Volksabstimmung über die staatliche Loslösung von England, Wales und Nordirland. Die 49-jährige Juristin will spätestens 2021 abstimmen lassen, so hat es das SNP-dominierte Landesparlament in der Hauptstadt Edinburgh beschlossen.
Schottland hat Erfolgsstorys und Visionen
Jahrzehntelang galt Schottland als das abgehängte Armenhaus Großbritanniens. Englische Herrscher haben seit der Vereinigung 1707 wenig getan, die Menschen im Land der Dudelsackkultur abzuholen. Viele Engländer betrachten das Land der windumtosten Shetland-Inseln, der zerklüfteten Highlands und bergigen Southern Uplands mit Arroganz. Aber inzwischen ist aus dem Außenseiter mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern ein kraftvoller Player geworden.
- Die Whiskyindustrie ist keine Folklore, sondern ein globales Milliardengeschäft – jede Sekunde verlassen 38 Flaschen die Destillerien, schätzen Branchenkenner.
- Aus dem hochmodernen Spezialhafen Aberdeen an der Nordseeküste sprudeln hohe Steuereinnahmen aus der Ölförderung – zu viel davon gehe allerdings nach England, finden viele Schotten.
- Eine Erfolgsstory hat Schottland in der Digital- und Kreativbranche hingelegt. Zehntausende Menschen entwickeln Software, Computerspiele und Unterhaltungsprodukte. Eine gezielte Zuwanderungspolitik hat die Fachkräfte geholt.
Schon früh erkannte die Regionalregierung auch das Potenzial erneuerbarer Energien: In Schottland bläst mit durchschnittlich 8,5 Metern pro Sekunde eine der höchsten Windgeschwindigkeiten Europas – weit stärker als an der deutschen Nordseeküste. Wärme-, Gezeiten- und Wellenkraftwerke komplettieren den Mix an grüner Energie, aus der Schottland bereits kommendes Jahr fast 100 Prozent seines Stroms gewinnen möchte. Und dann will Schottland große Mengen Wasserstoff herstellen und exportieren.
Ähnlich wie Katalonien kommt der Unabhängigkeitsruf in Schottland nicht aus Armut, sondern aus Reichtum, der – nach beider Lesart – zu wenig im Lande bleibt. Der Unterschied: Das Nordlicht Großbritanniens hat ein verbrieftes Recht auf ein Unabhängigkeitsreferendum. Fast täglich droht Sturgeon dem starken Mann in London: „Das Mandat der SNP, den Menschen eine Wahl zu ermöglichen, muss respektiert werden.”
Johnson erteilt dem Unabhängigkeitsbegehren der Schotten eine klare Absage. Damit zementiert er eine Front und verfestigt das mit großen Emotionen aufgeladene Streben nach einem „Scexit” nach dem Brexit. Es bleibt spannend auf der Insel, die sich – noch – „Vereinigtes” Königreich nennt.
