Von Wolf Achim Wiegand (erschienen in FORUM – Das Wochenmagazin)
In Corona-Zeiten ist der Brexit fast aus dem Blick geraten. Dabei müssten derzeit eigentlich die Verhandlungen unter extremem Hochdruck laufen.
Brüssel (waw) – Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass alle Hauptpersonen des Brexit-Dramas am Coronavirus zu laborieren hatten. Erst ereilte es Michel Barnier, den EU-Chefverhandler, mit 69 Jahren voll in der Risikogruppe. Nach strenger Quarantäne zu Hause ist der Franzose inzwischen wieder gesund. Zufall der Geschichte: Kurz nach Barnier musste auch dessen britischer Gegenpart David Frost in Quarantäne gehen. Und dann erwischte das Virus sogar Boris Johnson (55). Der britische Premierminister musste auf die Intensivstation. Nun aber hat auch er das Zepter wieder in der Hand.
Er lebt noch – und wie!
Zwar hatten Brüssel und London ihre Schlussverhandlungen über den EU-Austritt des Vereinigten Königreiches wegen der Corona-Krise kurzzeitig ausgesetzt. Aber nun bleibt es doch beim Fahrplan, wonach die Beteiligten bis zum Jahresende alle nötigen Vereinbarungen für die Scheidung schließen wollen.
Ungeklärt ist ein Vierteljahr nach dem offiziellen Austritt des Vereinigten Königreiches weiterhin, wie der Handel nach der derzeitigen Übergangsfrist geregelt werden soll. Bis zum Jahresende soll feststehen, wie das Zusammenspiel Großbritanniens mit dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion künftig aussieht. Dabei ist es immer noch möglich, dass Barnier und Johnson keinen gemeinsamen Nenner finden und ein harter Bruch mit heftigen Wirtschaftswirbeln kommt.

Derzeit liegen beide Seiten weit auseinander, verlautet es aus Brüssel. Laut Experten laufen die Videokonferenzen über mögliche Vertragstexte ohne „wirkliche, greifbare Fortschritte”. Die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD), macht dafür London verantwortlich. „Wenn man vernünftige Partner auf beiden Seiten hätte, dann könnte man sagen, jetzt ist der Druck höher, jetzt wird man sich einigen“, sagte Barley. Die Signale der konservativen Regierung Johnson seien aber andere.
Verhandlungen zäh wie Kaugummi
Haken tut es unter anderem bei der Fischerei. So wollen die Briten unbedingt erreichen, dass keine EU-Boote mehr in den Gewässern der Inselnation fündig werden dürfen. Die Briten wollen volle Kontrolle über jährliche Fischverkäufe in Höhe von durchschnittlich 1,6 Milliarden Euro haben. Darunter fällt der Nordseehering, der in Deutschland und anderen EU-Ländern etwa zu Matjes verarbeitet wird. Europa ist nicht daran interessiert, dass die Briten über diesen silbernen Schatz künftig die Alleinherrschaft haben.

Insbesondere mit französischen Kuttern leisten sich britische Fischer immer wieder handfeste Scharmützel. Es geht um die begehrten Jakobsmuscheln, eines der wenigen Schalentiere, das sich freischwimmend im Wasser bewegen kann, und das sanft angebraten oder heißgeräuchert ein delikater Gaumenschmeichler ist (Foto). Den Kontrahenten zur See sind viele Mittel recht: Netze kappen, abdrängen und rammen – alles schon vorgekommen. Die Corona-Krise hat alles noch verschärft. etwa vier Fünftel der britischen Fangflotte sind zurzeit stillgelegt, der Markt ist zusammengebrochen. Sich schnell zu berappeln ist lebenswichtig.
Geht’s besser nach Corona?
Aber auch bei Justiz und Strafverfolgung ist zwischen Europäern und Briten noch längst nicht alles klar. Ziel der EU ist es zu verhindern, dass vor ihren Toren eine riesige Dumpingoase entsteht, die Investoren mit minimalen Sozial-, Arbeits- oder Umweltstandards sowie mit üppigen Staatsbeihilfen und Niedrigsteuern anlockt.
Beobachter warnen schon, das Ringen um die Überwindung des tiefsten Einschnitts der EU-Geschichte werde sich weiterhin wie Kaugummi hinziehen. Der Moment der Wahrheit kommt im Juni. Dann wolle man prüfen, ob und welche Fortschritte es in Sachen Brexit gebe. Vielleicht ist bis dahin auch die Corona-Krise abgeebbt. Dann könnten sich die Kontrahenten auch wieder am Verhandlungstisch persönlich in die Augen blicken.