Von Wolf Achim Wiegand (aktualisiert)
Hamburg / Beirut (waw) – Erste Szene: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron steht nur einen Tag nach der verheerenden Explosionskatastrophe in Beirut verschwitzt und mit hochgekrempelten Ärmeln mitten in den Trümmern. Menschen rufen: “Sturz des Systems!” und “Vive la France!” Trotz Bodyguards kommt es zu Umarmungen. Fast könnte man meinen, die Menge wende sich an einen eigenen Politiker.

Zweite Szene: Im Präsidentenpalast des Libanon nach einer Unterredung mit Macrons greisen Kollegen Michel Aoun (85). Der erst 42 Jahre junge Mann aus Paris gibt eine Erklärung ab. “Die Spitzenpolitiker des Landes stehen hinter dem Gast aufgereiht wie Schuljungen und hören Macron zu wie bei einer Strafpredigt,” notieren die Korrespondenten Moritz Baumstieger und Dunja Ramadan. Nach ihm ergreift kein Libanese selbst das Wort, “so wie sich bisher auch keiner von ihnen in den Straßen Beiruts der Wut der Bürger gestellt hat.“

Die beiden Begebenheiten symbolisieren, was im Libanon abgeht. Es ist nackte Verzweiflung. Und Wut.
Niemand verspricht sich mehr Hilfe von innen. Die Regierenden wissen das. Sind aber paralysiert.
Europa erscheint da Manchen als möglicher Retter in der Not. Vor allem Frankreich, das seit jeder im Libanon eine besondere Rolle spielt.
“Die Charmeoffensive des französischen Präsidenten im Libanon folgt einer bewährten außenpolitischen Kunst. Aber sie steht auch für Frankreichs neue und unerwartete europäische Führungsrolle.”
ZEIT
Schon vor der Katastrophe war klar: Das Land mit dem Zedern-Staatssymbol ist am Ende. Es steht vor der Staatspleite. Die Währung wird immer wertloser. Die Wirtschaft liegt am Boden. Arbeitslosigkeit ist normal.
Die Gründe für die Misere sind weitgehend hausgemacht: Misswirtschaft, Korruption, Intransparenz, marode Infrastruktur und vor allem überkommene Machtstrukturen, die Reformen blockieren. Zu diesen Problemen kommen noch zu viele Flüchtlinge für das Land von der Größe Hessens – es sind etwa zwei Millionen, meistens aus dem zerschmetterten Nachbarland Syrien. Ach ja, und dann kam auch noch das Coronavirus…
Auf all das drauf kommt nun die vermutlich durch Schlendrian ausgelöste Schreckensexplosion. Ein Puff: 300.000 Obdachlose, wohl 150 Tote und etwa 5.000 Verletzte. Die halbe Stadt liegt in Trümmern (beeindruckende Drohnenaufnahmen). Der Hafen ist ausradiert. Fast alle nationalen Getreidevorräte sind verbrannt. Apokalypse.

Seit Herbst 2019 gehen zehntausende Menschen im Libanon regelmäßig auf die Straße, um den Abtritt der regierenden Elite und einen neuen demokratischen Anfang zu fordern. Doch die Empathielosigkeit, Hartleibigkeit und zum Teil extremistische Verstrickung der mächtigen Beharrer lässt Viele der Demonstranten zweifeln, ob ihre Ziele überhaupt erreichbar sind.
Die zwanzig verknöcherten Minister in der laut Nationalpakt von 1943 konfessionell zusammengesetzten Regierung bedienen nur noch Interessen der jeweiligen Clans. Der Libanon ist dadurch in unzählige Einflussgebiete zerfallen. Diese werden notfalls mit Waffengewalt verteidigt. Die Zerrissenheit spiegelt sich im 128köpfigen Parlament wieder:
Die gewählte Volksvertretung setzt sich traditionell nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität zusammen.

Das wichtigste Stück vom Kuchen hält die in Deutschland als Terrororganisation verbotene Hisbollah. Diese mit dem Iran verbandelte islamistisch-schiitische Partei, die das Existenzrecht des benachbarten Israel leugnet und es nadelstichartig mit Raketenbeschuss piesackt, unterhält eine schwerbewaffnete Miliz. Selbst die offizielle libanesische Armee kann dem militärischen Arm der Hisbollah nicht standhalten. Unter ihrem Prediger Hassan Nasrallah bildet sie einen “Staat im Staate”. Ihr Mann in der Regierung ist kein geringerer als Ministerpräsident Hassan Diab.
Warum Europa eingreifen muss
Der Libanon ist historisch und kulturell eng mit Europa verbunden. Die Christen orientieren sich stark an der früheren Mandatsmacht Frankreich. Die betuchte Schickeria reist regelmäßig nach Paris, frequentiert dort Luxusgeschäfte und Nachtklubs. Nur am Rande: von November 1929 bis November 1931 war der spätere General Charles de Gaulle als Offiziersausbilder in Beirut stationiert.
Die Muslime des Libanon hingegen blicken eher nach Großbritannien, der einstigen Aufsehernation des damaligen Palästina. Wer im Libanon als des Arabischen nicht mächtigen Fremder auf Muslime trifft, der muss Englisch reden. Bei den Christen dagegen pflegt man Französisch.
Christen und Muslime leben weitgehend nebeneinander her. Interkonfessionelle Freundschaften oder gar Hochzeiten gibt es kaum. Der Bürgerkrieg 1975 bis 1990 hat den Abstand verschärft. Damals bekämpften sich verschiedene Gruppierungen im Libanon in wechselnden Koalitionen.
Schätzungsweise 40% der Libanesen sind Christen (mit zunehmender Tendenz), fast 60 Prozent sind Muslime. Die politische Komplexität wird dadurch verschärft, dass auch die Religionsgemeinschaften in sich zersplittert sind:
Es gibt im Libanon 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Die Christen sind griechisch-orthodox, griechisch-katholisch, armenisch oder maronitisch. Zu den Muslimen zählen Schiiten, Sunniten, Ismailiten, Drusen und Alawiten. Die zahlenmäßig größten Gemeinden sind maronitische Christen sowie schiitische und sunnitische Muslime.
Europa ist für unzählige Menschen im Libanon, der einstigen “Schweiz des Nahen Ostens”, ein Orientierungspunkt, wie es das so in anderen Nahoststaaten nicht gibt.
Der Besuch Macrons hat das erneut unterstrichen. Ebenso nachvollziehbar waren die Ankunft französischer Polizei- und Ermittlungsteams, die Hilfszusage Angela Merkels wenige Stunden nach dem Unglück, die sofortige Inmarschsetzung des deutschen Technischen Hilfswerkes THW und die Entsendung eines deutschen Marineschiffes. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, begab sich einige Tage nach Macron ebenfalls nach Beirut, um die Lage auszuloten (Foto). Wichtiges Anliegen: Hilfsgelder dürfen jetzt nicht versickern. (So können auch Sie helfen, siehe Seitenende)
Ließe Europa den Libanon fallen, fehlte ihm ein weiterer wichtiger Brückenkopf in die unruhige arabische Welt. Spätestens die Kumpelei Wladimir Putins mit dem brutalen Regime von Baschar al-Assad im nebenan gelegenen Syrien hat in Brüssel die Alarmglocken zum Schrillen gebracht. Der Kreml paktiert militärisch mit einem Mann, der den Libanon wie sein Vorgänger und Vater schon immer lustvoll destabilisiert hat.
Dass der Libanon nicht gänzlich aus der Sphäre Europas abdriften darf hat aber noch weitere handfeste und unschöne Gründe. So exportiert die bereits erwähnte Hisbollah ihren Terror in die EU. Die Bundesregierung setzt sich daher “aktiv für ein entschlossenes Vorgehen gegen terroristische und kriminelle Aktivitäten der Hisbollah im In- und Ausland” ein.
Neben der Geschichte und dem Terror spielen Drogenhandel und Terror eine Rolle. Sie zwingen Europa geradezu, den Libanon nicht fallen zu lassen, sondern ihn zu beeinflussen. Erst kürzlich wurden in Beirut rekordverdächtige mehr als 25 Tonnen Cannabis beschlagnahmt, die in den Export gehen sollten. Der Stoff wird im Libanon in großem Stile angebaut und auch nach Europa geschmuggelt, obwohl er im Libanon selbst nicht einmal für medizinische Zwecke freigegeben ist. Vermutlich ist das eine wichtige Einnahmequelle für die Hisbollah-Extremisten, deren Arm diesbezüglich bis nach Südamerika reicht. Die Hisbollah ist das größte Problem auf dem Weg zu neuen Ufern.

Und dann sind da noch kriminelle Großfamilien mit libanesischem Hintergrund, die in Deutschland ihr Unwesen treiben. Etwa die libanesisch-stämmige Großfamilie Remmo oder die Abou-Chakers, die bereits seit den 80er Jahren in Berlin aktiv sind. Oder der Miri-Clan, der überwiegend in Bremen aber auch in Essen und Berlin aktiv ist. Die Vorwürfe gegen diese mafiamäßig strukturierten Familien umfassen den ganzen Katalog der organisierten Kriminalität: Schutzgelderpressung, Drogen- und illegalen Medikamentenhandel, Waffenschmuggel oder Geschäfte im Rotlichtmilieu.
Würde der Libanon als failed state im Chaos versinken, dann entstünde im Libanon wohl eine noch größere Verbrechermelange, als ohnehin schon heute, befürchten Experten.
Indessen blutet der Libanon immer mehr aus. Ein ungeheurer “brain drain” ist im Gange, also die Emigration gutausgebildeter junger Menschen. “Auswandern und den Mist zurücklassen,” ist das Motto für tausende, die nicht der weiterverbreiteten Depression anheimfallen wollen. Im Zeitraum 1975 – 2011 verließen rund 1,6 Millionen Libanesen ihre Heimat.
Der Neuanfang anderswo ist nicht so schwierig, hat die Auswanderung doch seit den Zeiten der Phönizier eine uralte Tradition im Libanon. Ob in Nord- und Lateinamerika oder in Europa – überall gibt es Anknüpfungspunkte für Auswanderer.

Doch dem Libanon gehen durch die Auswanderung viele tatendurstige Menschen verloren. Und das ausgerechnet in der schwersten Krise seit der Staatsgründung 1943.
Was libanesischen Auswanderern bleibt sind Erinnerungen. Auch an das Beirut vor der Explosion. Eine aufregende, quirlige Mittelmeerstadt. Ein Ort kultureller Freizügigkeit, wie sie die arabische Welt sonst kaum kennt. Ein breites Bürgertum. Viele hochgebildete Menschen: Künstler, Intellektuelle, Ärzte. Das alles droht jetzt wegzubrechen. Der Libanon befindet sich in einer Erosion, nicht erst ausgelöst durch die Explosion. Wie schwierig eine Lösung ist, das hat die Süddeutsche Zeitung in einem exzellenten Kommentar beschrieben.

Seit Herbst 2019 gehen zehntausende Menschen im Libanon regelmäßig auf die Straße, um den Abtritt der regierenden Elite und einen neuen demokratischen Anfang zu fordern. Auch jetzt, nach der Explosion, Gewalt eingeschlossen. Die Empathielosigkeit, Hartleibigkeit und zum Teil extremistische Verstrickung mächtiger Beharrer lässt viele der Demonstranten indessen zweifeln, ob ihre Ziele überhaupt erreichbar sind.
Niemand hat den Zustand Beiruts zwischen Lebenslust und Todgeweihtsein so poetisch beschrieben wie die im Libanon hoch verehrte, heute 84jährige, Sängerin Fairuz. Schon vor fast vierzig Jahren schrieb sie den prophetischen Song “Für Beirut”. Er gibt auch in diesen Tagen vielen Libanesen Kraft beim Durchhalten:
“(Beirut, du schmeckst) nach Feuer und Rauch…
meine Stadt hat das Licht gelöscht…
doch du bleibst mein.“
