In den Brüsseler Büros der Europäischen Union sind die Reaktionen auf den Sieg von Joe Biden praktisch hundertprozentig einhellig: Erleichterung, neuer Mut, ja, auch offener Jubel. Doch um das von Donald Trump schwer gestörte transatlantische Verhältnis wieder zu kitten müssen sowohl Europa wie die USA erstmal Hausaufgaben machen. Das wird nicht einfach…

Brüssel (waw) – So laut hörte man in europäischen Hauptstädten schon lange nicht mehr schwere Steine von Herzen fallen. Als die Abwahl Donald Trumps als Präsident der USA feststand, konnten viele Politiker den Jubel kaum unterdrücken. Vier lange Jahre hatte man versucht, mit den Volten des unberechenbaren Mannes im Weißen Haus fertig zu werden – vorbei!
“Die EU und die USA sind Freunde und Verbündete, unsere Bürgerinnen und Bürger haben die tiefsten Verbindungen.”
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Trotz der Euphorie: In der EU ist man sich darüber im Klaren, dass man mit dem Double Biden/Harris nicht einfach an der goldenen Epoche anknüpfen kann, die 2016 mit dem Ende der Amtszeit von Barack Obama endete.
Viele Verantwortliche in der Europäischen Union denken so wie die FDP-Europaabgeordnete Nicola Beer. Auf Twitter postete die Liberale ihre Hoffnung auf eine “neue Renaissance in den transatlantischen Beziehungen zwischen starken Partnern und auf Augenhöhe.” Fast wie ein Echo äußert sich auch die Bundesregierung in diesem Sinne:
“Wir wollen in unsere Zusammenarbeit investieren, für einen transatlantischen Neuanfang, einen New Deal.”
.Bundesaußenminister Heiko Maas
Stark und auf Augenhöhe – genau das ist der Kurs, den wir in Europa jetzt einschlagen müssen. Man kann nur hoffen, dass Europas Regierende die Epoche 2016 – 2020 als eine Art Lehrjahre sehen. Denn die unseligen Trump-Jahre haben überdeutlich gezeigt, wie rasch aus einem Verbündeten ein Widersacher werden kann.
Europa unabhängiger machen
Jetzt gilt es nicht nachzulassen in Bemühungen, die Füße des europäischen Staatenverbundes in stabilere Schuhe zu stecken. Wir sind an einem geschichtlichen Wendepunkt. Nun wird sich entscheiden, ob die Europäische Union künftig in der Weltpolitik stärker mitspielen wird, oder ob sie auf ewig nur eine Juniorrolle einnehmen wird. Und sie hat das selbst in der Hand.
Die deutsche Verteidigungsministerin gibt den Kurs in einem Namenartikel der Bundeswehr-Oberbefehlshaberin vor:
“Europa bleibt abhängig von amerikanischem Militärschutz, aber die USA werden das Banner westlicher Werte nicht mehr alleine tragen können.”
Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Bundesverteidigungsministerin
Das bedeutet: Die europäischen Armeen müssen ihre militärischen Fähigkeiten weiter verbessern. das geschieht nicht vom Punkt Null. Schon seit 2017, unmittelbar nach Trumps Amtsantritt, bastelt die EU an ihrer Verteidigungsinitiative PESCO. Daran beteiligen sich 25 der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Zu den bindend eingegangenen Verpflichtungen gehört, bei der Planung und Entwicklung militärischer Fähigkeiten enger zu kooperieren. Mit PESCO ist ein Grundstein gelegt, um Europa unabhängiger von der US-dominierten NATO (aber nicht gegen sie!) zu machen.
“Ich freue mich auf eine sehr enge Zusammenarbeit, um das Band zwischen Nordamerika und Europa weiter zu stärken.”
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
Es ist davon auszugehen, dass die Administration des irischstämmigen Joe Biden uns Europäern wieder zuhören und mit Europa in konziliantem Ton sprechen wird. Integratoren wie Merkel und Macron sind die Gewinner dieser Entwicklung. Spalter wie Orbán und Kaczyński haben das Nachsehen.
Kein falschen Erwartungen
Doch man sollte sich nach dem Sieg von Joe Biden nicht über die Kräfteverhältnisse in Washington selbst täuschen. In der Demokratischen Partei des gewählten Präsidenten gibt es – insbesondere auf dem linken Flügel – Kräfte, die US-Auslandsengagements kritisch sehen. Auch Sie sprechen – wie Trump – von einem “Ungleichgewicht der Verantwortung.” Und bei den Republikanern sind rabiate US-Nationalisten nicht plötzlich verschwunden:
“Der Trumpismus ist weit weg von tot und könnte 2024 wiederkommen.”
Matthew Karnitschnig, Europa-Chefkorrespondent von Politico
Europa darf nicht erwarten, dass die befreundete Supermacht an der andere Atlantikküste im Ernstfall so, wie früher, immer automatisch eingreift, wenn europäische Interessen berührt werden. Auch wenn der Fackel der Freiheit wieder mehr Ehre zuteil werden sollte:
In unsere Nachbarschaft gibt es auch nach dem Sieg von Joe Biden weiter viele Konflikte, bei denen wir Europäer nicht als Zuschauer dabeistehen sollten, sondern als aktive Teilnehmer. Das In-Schach-Halten russischer Militärpräsenz im Ostseeraum ist für unsere Sicherheit ebenso unabdingbar, wie eine Reaktion auf Vorgänge in Mittel- und Osteuropa (Stichworte: Krim, Ukraine, Balkan, Armenien/Aserbeidschan). Auch die Konflikte rund ums Mittelmeer (Libyen, Türkei, Nahost) harren entschlossener europäischer Antworten.
“Es gibt eine Menge zu tun, um die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen – lasst uns zusammenarbeiten!”
Präsident Emmanuel Macron, Frankreich
Unsere Interessen werden nicht nur unmittelbar vor unseren Grenzen berührt, sondern auch weit jenseits. Beispiele:
- Die Massenmigration in Richtung Mittelmeer hängt unter anderem von der Sicherheitslage in der tausende Kilometer entfernten politisch instabilen afrikanischen Sahel-Zone ab.
- Die Aggressivität des Mullah-Regimes im Iran nach der sanktionsbewehrten Kündigung des Atomabkommens durch die USA droht einen kriegerischen Flächenbrand in ganz Arabien bis vor die Tore Europas auslösen.
- Das penetrante Streben der Kommunistischen Partei Chinas nach Weltvorherrschaft in der Wirtschaft dient der Ausbreitung eines totalitären Gesellschaftssystems, das unseren Werten diametral entgegensteht.

Nach dem Sieg von Joe Biden: Asien in den Blick nehmen
China ist für Europa längst vom gehätschelten Handelspartner zum politischen Konkurrenten geworden. Das rücksichtslose Vorgehen gegen die Demokratiebewegung in Hongkong lässt erahnen, was Peking – wenn es denn die Chance hätte – gegen die Inselnation Taiwan und die Regierung der liberalen Präsidentin Tsai Ing-wen tun würde. Die erzielt im Freiheitsindex der US-Nichtregierungsorganisation Freedom House bessere Werte, als Staaten wie die USA, Frankreich oder Italien.
Trotz dieser klaren Westzuwendung muss Taiwan ohne internationale Anerkennung mit einer nahen Volksrepublik klarkommen, die täglich mit Okkupation droht. Es ist daher gut, dass die Bundesmarine zumindest mal eine Fregatte ins Südchinesische Meer beordert hat, um dort in Koordination mit der australischen Armee die Flagge des Westens hochzuhalten. Aber es ist nur ein erster Schritt.
“The worst that can happen for the European Union is that the outcome of the US election allows us to slip back into that state of apathy, complacency and resignation that has characterised us for too long.”
Guy Verhofstadt, ehem. Ministerpräsident von Belgien
Überhaupt muss Europa in Asien mehr Selbstbewusstsein und Präsenz an den Tag legen. Das heißt: International mehr Verantwortung übernehmen. Der ferne Kontinent ist durch den Handel nahgerückt.
Asien ist die Heimat neuer Großmächte sowie alter und neuer Mittelmächte mit größtem wirtschaftlichem Gewicht. Etliche davon bewegen sich bei aller kulturellen Verschiedenheit im westlichen Wertesystem. Sie gehören eng an unsere Seite: Japan, Indien, Südkorea – um nur die drei bedeutendsten zu nennen.

Europa muss mit solchen gleichgesinnten asiatischen Staaten zumindest im Bereich militärischer Erkenntnisse eng zusammenarbeiten. In diesen Kreis gehören weitere Demokratien wie der größte muslimische Staat der Welt, Indonesien, sowie die parlamentarisch-demokratische Wahlmonarchie Malaysia. Und selbstverständlich die europäischsten Nationen am anderen Ende der Welt: Australien und Neuseeland.
“Die EU sollte mit den Ländern in der Region, die unsere Werte teilen, verstärkte Beziehungen eingehen, um multilaterale Allianzen zu bilden, Modernisierungspartnerschaften zu begründen und neue Dialog- und Kooperationsformate zu etablieren.”
Beschluss des FDP-Bundesvorstands vom 18. Mai 2020
Transatlantische Arbeitsteilung?
Verantwortung zu übernehmen muss übrigens nicht Aufrüstung um jeden Preis bedeuten. Sicherheit bringen auch zivile Kooperationen. Dazu zählen wirtschaftliche Aufbauprogramme für notleidende Länder, Hilfen bei der Herstellung funktionierender staatlicher Strukturen etwa im Gesundheitssystem oder Bildungshilfe dort, wo Schulen nicht für alle Menschen zugänglich sind. Außen-, Handels-, Menschenrechts- und Sicherheitspolitik müssen sich eng verzahnen.
“Ich freue mich auf die künftige Zusammenarbeit mit Präsident Biden.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel, Deutschland
All das kann in enger Abstimmung mit den wieder trumpfreien USA entstehen, etwa im Sinne einer Arbeitsteilung. Während sich die USA verstärkt in ihrem Hinterhof, der Pazifikregion, engagierte, könnte Europa mehr vor seiner eigenen Haustür und dahinter kehren. Europa darf nicht mehr länger die Hand ausstrecken und damit schwach gegenüber gegenüber Großmännern wie Trump aussehen. Ganz im Gegenteil:
„Die Freundschaft mit den USA ist keine Selbstverständlichkeit.”
Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender

Europa muss dem kommenden US-Präsidenten Biden anbieten, auch zu geben. Es bedarf einer Initiative zur Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft. Dabei sollte Deutschland, besser: Europa, proaktiv von sich aus auf die USA zugehen. Dazu müssen wir allerdings in der EU endlich mit einer Stimme sprechen oder – wenn das nicht möglich ist – bestimmte Projekte zunächst im Kreise gleichgesinnter EU-Partner auf den Weg bringen.
Nach dem Sieg von Joe Biden: Nicht zuschauen, machen!
In einer globalisierten Welt mit sich immer schneller drehenden Entscheidungsabläufen kann es sich der EU-Güterzug nicht länger leisten zu warten, bis auch die letzte Milchkanne aus Budapest oder Warschau eingetroffen ist.
Gegenüber unserem Verbündeten USA werden wir Europäer nur auf Augenhöhe den nötigen Respekt finden, um Beistand zum Schutz unserer Werte zu finden: Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und wertebasierten Regeln. Das bedeutet: Nach den sprachlosen verlorenen Trump-Jahren stehen Deutschland und Europa vor einer Ära mit Joe Biden, die mehr Engagement erfordert, nicht weniger.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat Recht:
“Die Wahl von Joe Biden sollte auch uns aus einer gewissen Passivität befreien. Die Zeit des Zuschauens muss vorbei sein.”
Nach dem Sieg von Joe Biden: Werden wir Europäer aktiv!

Europa muss endlich mit 1 Stimme sprechen. Dies gelingt jedoch nicht in einem “losen Staatenverbund souveräner Staaten” (BverfG). Es baucht den föderativen Bundesstaat Europa mit den Grundsätzen des Art. 23 Grundgesetz. Alles andere ist Volksverdummung”