Höher, schneller, weiter – Gigantomanie in der Schifffahrt

Bildquelle: Twitter

Von Wolf Achim Wiegand

Hamburg/Suez (waw) – Die Bilder waren surreal: Mitten in der Wüste stand ein riesiges gestrandetes Seeschiff. Doch das war keine Fata Morgana, sondern Realität. Die taiwanesische “Ever Given” – mit 400 Metern Länge das mit anderen größte Schiff der Welt – war gut eine Woche lang zwischen den Uferböschungen des Suezkanals eingeklemmt, der international wichtigsten künstlichen Wasserstraße.

Der Zwischenfall, der zu einem Rückstau hunderter Frachter und Tanker führte und die Ölpreise ansteigen ließ, wird in die Geschichte der Schifffahrtslogistik eingehen. Er sorgte nicht nur für Spott im Internet (siehe unten), sondern auch für Stirnrunzeln in den Hauptquartieren der Seefahrt. Empfindlich wurde aufgezeigt, wie leicht verwundbar die eng vernetzte und getaktete Weltwirtschaft ist. Ein kleiner Ritz in der Transportarterie genügt und schon droht der Strom der Warenlieferungen zu versiegen.

Die “Ever Given” bumste schon einmal an…

Der über 150 Jahre alte Suezkanal ist trotz immenser Durchfahrtkosten (durchschnittlich mehr als 300.000 US-Dollar pro Fahrt) für den Seeverkehr unverzichtbar geworden. Durch ihn schwimmen zwischen den Hafenstädten Port Said und Port Taufiq auf bis zu 50 Schiffen täglich viele Millionen Güter, die zu unserem Wohlstandsleben gehören – vom Plastikstuhl über das Handy bis zum Autoersatzteil. Auch lebendes Vieh, große Mengen Öl oder alle möglichen Pharmaprodukte und Rohstoffe gehören dazu.

Was dem ägyptischen Staatsbetrieb Suez Canal Authority über 5 Milliarden US-Dollar Jahreseinnahmen beschert, lohnt sich auch für Reedereien. Die rund 200 km lange Strecke verkürzt die Route zwischen dem Arabischen Meer und Hamburg um fast 9.000 km gegenüber dem Kurs ums südafrikanische Kap der Guten Hoffnung. Zeitersparnis: acht bis zehn Tage. Das bedeutet weniger Treibstoff, weniger Zeit auf See, schnellere Belieferung der Kunden.

Die Havarie zwischen den Kanalausgangspunkten Port Said und Suez poppt eine weitere Frage auf. Wie anfällig sind solche Containergiganten wie die “Ever Given” für Havarien?

Ironie der Geschichte ist, dass es ausgerechnet dieses Schiff der Reederei Evergreen war, das im Februar 2019 bei der Ausfahrt aus dem Hamburger Hafen vor dem idyllischen Elbvorort Blankenese vom Wind aus der Fahrrinne gedrückt wurde. Trotz Schlepper- und Lotsenbegleitung schwenkte das Heck des Giganten aus und drückte am dortigen kleinen Anleger eine Fähre zusammen. Deren Kapitän erlitt einen Schock, ansonsten passierte wie durch ein Wunder nichts. Nicht ohne Grund dürfen solche Frachter auf der Elbe nur unter Windstärke sieben fahren. Beim Ablegen der “Ever Given” hatten die Werte noch bei Stärke sechs gelegen, erst vor Blankenese frischte es auf.

paper boats on solid surface

Drei weitere Engpässe der Schifffahrt:

Die Schelde vor dem Hafen von Antwerpen, Niederlande. Die Unterelbe zwischen Hamburg und der Deutschen Bucht. Der Panamakanal (für Schiffe über 367 m ungeeignet)

Windschlüpfrig geht anders

Könnte es also sein, dass die seit Jahren zunehmende Gigantomanie beim Schiffbau zu Konstruktionen führt, die nicht gegen die enormen Kräfte von Winden gefeit sind, weil sie eine turmhohe Angriffsfläche bieten?

Ein Großfrachter – in Nautikerkreisen “AGF” genannt (Außergewöhnlich großes Fahrzeug) – mit seiner viele Stockwerke hohen Bordwand und den darüber aufgetürmten Containermassen ist nicht gerade windschlüpfrig (siehe oben). Bei bei fünf bis sechs Windstärken drücken schon mal 200 Tonnen zusätzlich auf das schwere Schiff. In schwierigen Revieren wie Häfen oder flussläufen dürfen solche Pötte daher nur mit Schlepperhilfe fahren.

Im Suezkanal haben Schiffe zwar Lotsenhilfe, sind aber ansonsten auf sich selbst gestellt – und das inmitten einer meistens endlosen Ebene. Dort haben die Kräfte der Natur nicht nur bei Sandstürmen freie Bahn. Mancher Schiffskonstrukteur dürfte sich nun nach dem Vorfall in der Wüste Gedanken machen, ob es Möglichkeiten gibt, Seefahrzeuge nicht nur am Bug und Rumpf, sondern auch an den Steuer- und Backbordseiten schnittiger zu bauen, so, dass der Wind abgleitet.

Kritiker halten das derzeitige Reedermotto “höher, schneller, weiter” jedenfalls für Wahnsinn. Sie weisen darauf hin, dass Containerfrachter vom Ausmaß der “Ever Given” immer schwerer zu handhaben sind – insbesondere in Notlagen. Schiffe haben ja keine Bremsen. Der Halteweg kann selbst beim Einstellen der Motoren auf “volle Fahrt rückwärts” Kilometer weit sein. Immerhin pflügen bei den größten Exemplaren neben rund 200.000 Tonnen Ladung noch mehrere Zehntausend Tonnen Eigengewicht durchs Wasser.

Schiffe so unbeweglich, wie tapsige Seebären

Dazu kommt, dass die meisten Großfrachter auch seitwärts extrem unbeweglich sind. Kreuzfahrtschiffe können selbst im Hafen meistens ohne Hilfe seitwärts am Kai anlegen, möglich machen das ausgeklügelte Propellersysteme. Doch bei Frachtern sorgt in der Regel nur ein einziger Motor in direkter Kraftübertragung für eine gleichmäßige Vorwärtsfahrt – das ist wie eine Fahrt mit Scheuklappen, das links und rechts bleibt ausgeblendet. Deshalb benötigen “AGFs” auf engem Raum die Unterstützung durch Schlepper.

Die denkwürdige Havarie in der Wüste am Suezkanal wird die Auftraggeber der Werften allerdings wohl kaum zum Zurückzucken veranlassen, zumal der Zwischenfall ohne echte Sach- oder gar Personenschäden blieb und damit relativ glimpflich verlaufen ist. Zu eindeutig positiv ist der ökonomische Nutzen aus Sicht der Betreiber in Zeiten, in denen die Transportkosten pro Container bisweilen unverschämt niedrig liegen und die Margen für die Branche drücken. Nur Massenfrachten können Renditen erwirtschaften, die sich lohnen.

Das japanische Reedereinetzwerk Ocean Network Express Pte. Ltd. (ONE), der sechsgrößte Carrier der Welt, hat gerade angekündigt, ab 2023 die größten Schiffe der Welt betreiben zu wollen und einen Chartervertrag für sechs Megafrachter mit einer Transportkapazität von jeweils über 24.000 Standardcontainer (TEU) aufgelegt. Zum Vergleich: Die “Ever Given” kann “nur” 20.124 TEU transportieren. ONE ist nicht der einzige Schiffsbetreiber, der in diesen Maßstäben denkt.

Die Grenzen des Wachstums sind beim Schiffbau noch längst nicht erreicht. Megafrachter sind beileibe kein Auslaufmodell. Die Kapazitäten der Containerschiffe haben sich in den letzten 20 Jahren vervierfacht. Und es geht immer noch ein Stückchen größer, besser beladbarer und rentabler. Deshalb werden auf absehbare Zeit weiterhin und immer mehr die Ozeanriesen die Routen auf den Weltmeeren beherrschen.

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