Liegt das Vereinigte Königreich (UK) sterbend in Scherben? Die Kommunalwahlen von Anfang Mai haben offenbart: Die im United Kingdom zusammengeschlossenen Länder England, Schottland, Nordirland und Wales ticken politisch in unterschiedlichen Takten. Die über 300 Jahre alte Union könnte im Mülleimer der Geschichte landen…
Hamburg/London/Edinburgh (waw) – Diese Meinungsumfrage war ein erheblicher Schlag gegen die Regierung des konservativen Premierministers Boris Johnson (56): Die meisten Engländer würden sich nicht dagegen stemmen, wenn Schottland ein unabhängiger Staat würde. Zwar glaubt fast jeder zweite Einwohner im größten Land des Vereinigten Königreiches, dass die Abspaltung nützlich wäre, aber wenn es dazu käme, würden die Engländer die Schotten ziehen lassen.
Niemals seit seiner Entstehung durch den Act of Union am 1. Mai 1707 war das Vereinigte Königreich so uneinig, wie heute. Das ist das Ergebnis der Regional- und Kommunalwahlen vom Mai:
- ENGLAND: Hier regieren die Konservativen. Im größten Land der Britischen Inseln gewann die Partei Johnsons mehr als 200 lokale Mandate, während die sozialdemokratische Labour-Opposition über 300 verlor. Eine der Ausnahmen ist die Stadt London, wo Bürgermeister Sadiq Khan (Labour) knapp sein Amt behalten konnte.
- SCHOTTLAND: Hier denkt man unabhängig. Die für Selbständigkeit kämpfende Nationalpartei (Ausrichtung: sozialdemokratisch) mit Regierungschefin Nicola Sturgeon verpasste die absolute Mehrheit um nur einen Sitz. Sie hat aber zusammen mit den Grünen eine solide Mehrheit für die Ausrichtung eines Unabhängigkeitsreferendum, das der konservative Premierminister Boris Johnson jedoch genehmigen müsste.
- WALES: Auch das kleinste Land Britanniens setzt sich von England ab. Von den 60 Abgeordneten des Parlamentes (Senedd) gehört fast jeder zweite zur Labour Party, die mit Mark Drakeford erneut den First Minister stellt. Die mitte-links angesiedelte EU-freundliche Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru unter Adam Price blieb mit 20 Prozent stabil.
Damit ist klar: Während England politisch traditionell bleibt, stehen die Zeichen in Schottland auf Loslösung und in Wales denkt man links.
Unabhängigkeit: Der Norden gärt
Das Augenmerk politischer Beobachter richtet sich jetzt auf Schottland. Zwar hat die auf Unabhängigkeit fixierte Scottish National Party (SNP, 64 von 129 Sitzen), die zurück in die Europäische Union (EU) möchte, zusammen mit den ebenfalls abspaltungswilligen Grünen (acht Sitze) einebequeme Mehrheit im Scottish Parliament (Pàrlamaid na h-Albas). Aber ein Bündnis muss erst noch geschmiedet werden. Und das werden sich die Grünen teuer erkaufen, macht Patrick Harvie klar, der Co-Vorsitzende der schottischen Grünen.
Ein SNP/Greens-Deal könnte vor allem Veränderungen in der schottischen Verkehrspolitik und ein Ende des SNP-Straßenbauprogramms bedeuten. Auch ein Zurückfahren der Investitionen für die Ölförderung in der Nordsee und mehr Geld gegen die Armutsbekämpfung sind denkbar.
So ein Abkommen wäre “eine historische Chance für die Grünen, denen es bisher nicht gelungen ist, die gleichen politischen Durchbrüche zu erzielen wie andere grüne Parteien in Europa,” analysiert der Guardian. Lorna Slater, die andere Co-Vorsitzende der schottischen Grünen, ist dazu bereit: “Wir müssen die Ärmel hochkrempeln und eine erwachsene Politik der Verhandlungen, Kooperation und Konsensbildung praktizieren.” Dazu gehört eine gemeinsame Strategie Richtung staatlicher Unabhängigkeit, die am genehmigungspflichtigen aber störrischen Premierminister des Vereinigten Königreiches vorbeiführt.
Kann Edinburgh London austricksen?
„Angesichts dieses Ergebnisses gibt es keine demokratische Rechtfertigung für Boris Johnson oder irgendjemand anderen, das Recht der schottischen Bevölkerung, unsere Zukunft selbst zu wählen, zu blockieren“, sagte die Regierungschefin in Edinburgh. Sollte London ein Referendum ablehnen, wäre das der Beweis dafür, dass die Regierung in London das Vereinigte Königreich „erstaunlicherweise nicht mehr als freiwillige Union der Nationen betrachtet“.
Nichts ändern wird sich indessen in England. Auch in Wales läuft alles weiter wie bisher.
Nordirland zwischen allen Stühlen
Hingegen steht das vierte Land des UK, Nordirland, wo jetzt keine Wahlen stattfanden und das seit genau hundert Jahren zum Königreich gehört, vor ungewissen Zeiten. Vorübergehend aufgeflammte Unruhen deuten darauf hin, dass seine komplizierte Rolle als plötzliche Frontregion vor einer EU-Außengrenze erhebliche Explosionsgefahr birgt – kommen die bürgerkriegsähnlichen Zustände von 1969 bis 1998 wieder?
Nordirland hatte ja im Abkommen über den EU-Austritt Großbritanniens einen Sonderstatus erhalten. Damit gelten in der einstigen Unruheprovinz faktisch weiterhin die Regeln der Europäischen Zollunion und z. T. des EU-Binnenmarkts. Genau das hatte Anfang des Jahres zu Problemen geführt.
Stein des Anstoßes ist der Handelsweg über die unsichtbare “feste Grenze” in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien. Sie zu beschreiten ist für viele Geschäftsleute wegen der umfassenden Deklarationsformulare so bürokratisch geworden, dass sie Nordirland nicht mehr beliefern möchten. Leere Regale waren im Frühjahr die Folge gewesen. Daraufhin kam es zu gewaltsamen Unruhen…
Dass auch dieser Landesteil aus dem UK ausscheren und das bislang mehrheitlich monarchietreue Nordirland sich mit der Republik Irland zu einem Land wiedervereinigen könnte, das ist kein Szenario der Unmöglichkeit mehr. Unabhängigkeit ist hier aber kein Thema.
Es geht auch um Öl und Whisky
Die Zukunft des Vereinigten Königreiches wird nicht zuletzt davon abhängen, wie geschmeidig sich die Zentralregierung in London zeigt. Betonhart zeigt sich jedoch Johnson, der ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum laut Gesetz genehmigen müsste. Er nennt derartige Überlegungen “unverantwortlich und rücksichtslos“.
Es sind vor allem wirtschaftliche Gründe, die für Unerbittlichkeit bei den englischen Konservativen sorgen. Schließlich ist Schottland das Tor zum goldenen Nordseeöl. Der schottische Hafen Aberdeen ist das Herz der britischen Förderindustrie.
Und nicht zu vergessen: Whisky umfasst 56% der britischen Getränkeausfuhren.
Schottland rechnet sich jedenfalls im Falle seiner Unabhängigkeit eine stabile ökonomische Lebensgrundlage aus. Für England dagegen entfielen diverse Großeinnahmequellen.
Es wird spannend im Königreich – schaunmermal, oder, wie man auf den Britischen Inseln sagt: Let’s wait and see…
