Als die Welt noch in “Kommunisten” und “Kapitalisten” geteilt war, bedrohten sich beide Lager mit Atomwaffen. So groß war die Abschreckung, dass diese bis heute gelagerten Waffensysteme nie zum Einsatz kamen. Heute bahnt sich mit sogenannten Hyperschallwaffen eine neue Eskalationsstufe des nuklearen Wettrüstens an: Mit unvorstellbar schnellen Raketen, gegen die nach bisherigem Stand kein Gegenmittel möglich ist.
Von Wolf Achim Wiegand (Titelfoto: China Central Television, CCTV)
Hamburg (waw) – Die Welt befindet sich mitten in einem neuen Wettrüsten mit Waffen, die jede bisherige Vorstellungskraft von Präzision und Schnelligkeit in den Schatten stellen. Die Wunderwaffen heißen im Fachjargon “Hypersonic Glide Vehicles” (HGV). Das sind sogenannte Hyperschallraketen, die mindestens fünffache, vielleicht auch unglaubliche 27-fache Schallgeschwindigkeit (Mach 27) erreichen können.
China ist Vorreiter bei diesen Hyperschallwaffen. Im Netz kursieren Videos von einem Fluggerät namens “XingKong-2” (星空二号, engl. Starry-sky-2), das bereits 2018 eine Höchstgeschwindigkeit von Mach 6 erreicht haben soll (rund 7400 km/h). Während seines 10-minütigen Fluges erreichte das Gerät eine Höhe von etwa 30 km, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Auch, wenn Analysten nicht genau wissen, wie weit es mit dem Projekt wirklich bestellt ist, scheint klar: die kommunistische Regierung in Peking fordert die Welt heraus und hat Rivalen in Zugzwang gesetzt.
Russland ist der Volksrepublik auf den Fersen. Staatspräsident Wladimir Putin persönlich beobachtete zur Jahreswende 2018/19 am Bildschirm von Moskau aus den Start der neuen Rakete vom Typ “Avangard” (Авангард, engl. Vanguard). Sie soll im Süden Russlands gestartet worden sein. Ihr Ziel lag 4.000 Kilometer entfernt auf der Halbinsel Kamtschatka, der größten Halbinsel Ostasiens im äußersten Osten Russlands. Das Geschoss soll 20-fache Schallgeschwindigkeit erreicht haben.
USA zu langsam
Auf einer Interkontinentalrakete montiert, kann die Avangard nach Experteneinschätzung eine Atomwaffe von bis zu zwei Megatonnen tragen. Armeegeneral Sergej Schoigu: “Die russischen Streitkräfte werden eine völlig neue, beispiellose Waffe erhalten, die auf Hyperschall- und Laserenergietechnologien basiert. Die ersten Muster wurden bereits im Probekampf eingesetzt.”
Die Versuche der USA, den Waffensystemen seiner Rivalen etwas entgegenzusetzen, haben dieser Tage einen herben Rückschlag erlitten. Ende Juli misslang schon der zweite Versuch, die erste Hyperschallwaffe der US-Luftwaffe zu testen, berichtet das Rüstungsfachmagazin “The Drive”. Der Raketenbooster der Rakete konnte nicht gezündet werden, nachdem er sich von dem B-52-Bomber, der ihn trug, getrennt hatte. Der Test des Systems AGM-183 ARRW fand über dem ehemaligen Raketenstartplatz Ponit Mugu in Südkalifornien statt.

Der US-Fehlschlag folgt laut The Drive einem ersten erfolglosen Flugversuch im April. Dabei verließ die Rakete nicht einmal die Tragfläche des Flugzeugs, an der sie befestigt war. Die Versicherung der Air Force, man habe “immerhin wertvolle Testdaten gewonnen”, klingt eher mau. Auf jeden Fall liegt die amerikanische Luftwaffe nach Schätzungen von Fachleuten mindestens sieben Monate hinter ihrem Testfahrplan zurück.
“Es bleibt abzuwarten, wie sich dieser zweite erfolglose Flugtest auf die Pläne der Air Force für ARRW auswirkt,” kommentiert The Drive. Das Ziel, mit der Hyperschallwaffe noch vor 2025 “eine gewisse anfängliche Einsatzfähigkeit” zu erreichen, bleibe bestehen. Weiterhin hat das Projekt beim US-Militär also absolute Top-Priorität. Bedeutet es doch eine wichtige Fähigkeit, zukünftigen Konflikten mit potenziellen Gegnern wie China erfolgreich zu begegnen. Wobei die USA im Gegensatz zur chinesischen und russischen Führung bislang nicht erwägen, ihre Hyperschallraketen mit Atomsprengköpfen auszurüsten.
Hyperschallwaffen: Wegbereiter für neue Strategie
Die Bedeutung dieser neuen Hyperschall-Waffen liegt darin, dass sie eine völlig neue militärische Strategie erfordern, können sie doch innerhalb einer Stunde jeden Ort auf der Welt erreichen. Zum Vergleich:
- Russland hat 2015 eine Salve von Marschflugkörpern vom Kaspischen Meer auf Ziele in Syrien abgefeuert. Diese Raketen erreichten ihr Ziel vermutlich in einer Stunde und dreiunddreißig Minuten.
- Eine Hyperschallrakete mit Mach 5 könnte das gleiche Ziel in etwa vierzehneinhalb Minuten erreichen.
- Der KH-47M2 Kinzhal – ein russisches experimentelles luftgestütztes Hypersonic Glide Vehicle (HGV), das angeblich Mach 10 erreichen kann – könnte dieselben Ziele in etwa sieben Minuten und fünfzehn Sekunden treffen.
Auf Ihrem Weg ins Ziel können Hyperschallwaffen andauernd ihre Richtung ändern und so feindliche Abwehrstellungen umfliegen. Der Zickzack auf einem extrem tiefliegenden Kurs lässt für die Angegriffenen keinerlei Vorausberechnung des mutmaßlichen Ziels zu. Bei einer Anhörung im US-Kongress sagte der damalige Verteidigungsunterstaatssekretär Michael Griffin, Hyperschallziele seien für US-Beobachtungssatelliten im geostationären Orbit “bis zu 20 Mal dunkler” (gemeint: schlechter vorauszusehen). Ein einziger atomarer Gefechtskopf kann ganze Länder wie Frankreich oder Deutschland vollständig vernichten.
Die Raketen stehen schon
Chinas weiter Vorsprung im neuen Rüstungswettlauf um Hyperschallwaffen weit vorne. Die Volksrepublik soll seit 2014 zunächst mehrere Tests von Lkw durchgeführt haben. Sein System gilt als das erste seiner Art, das betriebsbereit ist. Es könnte nach Einschätzung von Insidern dazu genutzt werden, über den einseitig beanspruchten Zonen im Südchinesischen Meer kaum durchbrechbare Sperrzonen (Fachjargon: Anti Access/Area Denial (A2/AD) einzurichten.
Bei einer Parade in Peking stellte Chinas Führung schon im Jahre 2019 sein Hyperschallgleitfahrzeug vor und wiederholte die Schau vor wenigen Wochen auf dem Tiananmen-Platz. Das System besteht in seiner ersten Stufe aus einem Standard-Booster für ballistische Raketen. Die zweite Stufe ist ein tief fliegendes Projektil, das verwendet wird, um ein Ziel nach dem ballistischen Wiedereintritt der ersten Stufe anzugreifen, berichtet das Fachportal Defence News.
Auch Russland hat allem Anschein nach bei der HGV-Aufrüstung erhebliche Fortschritte gemacht. Es heißt schon Ende 2019 ganz offiziell, der Kreml habe zwei Hyperglider vom Typ Avangart mit Atomsprengköpfen stationiert und plane, zwei entsprechende Raketenregimenter mit jeweils sechs silobasierten Raketen aufzustellen.
Die Zeit drängt
Klar ist: Die neuen Hyperschallwaffen stellen den Westen vor riesengroße neue Herausforderungen. Alles muss neu gedacht werden: Engineering, Testing, Materialentwicklung, Antriebssystementwicklung und Sensorik/Kommunikation. Aber das Neudenken muss in Lichtgeschwindigkeit erfolgen.
“Selbst auf höchster Ebene steckt das US-Entwicklungsprogramm bestenfalls in den Kinderschuhen,” lautet das Urteil von Insidern. “Die USA verlieren ihren strategischen Vorsprung, und die Zeit drängt, ihn zurückzugewinnen.” Ein Team von Breaking Defense, einem digitalen New Yorker Magazin für Militärpolitik, hat vor wenigen Tagen eine ausführliche Analyse über den Entwicklungsstand der USA bei diesem Waffensystem publiziert. “The Road to Hypersonic Weapons – Technical challenges & emerging opportunities” stellt unter anderem fest, dass das US-Verteidigungsministerium bislang weder Finanzierungs- noch Anschaffungspläne für Hyperschallwaffen genehmigt hat, außer für Prototypen.
Doch es wird Zeit!
Vielleicht führt der immense Druck des neuen Rüstungswettlaufes auch dazu, dass sich die großen Militärmächte an einen Tisch setzen. So, wie beim START-Vertrag, einem strategischen Offensivwaffenvertrag zwischen den USA und Russland. Der könnte reformiert werden, denn die aktuelle Fassung umfasst keine Hyperschall-Gleitfahrzeuge und Hyperschall-Marschflugkörper. Einige Analysten befürworten alternativ eine neue internationale Rüstungskontrolle zu verhandeln inklusive Verbots von Hyperschallwaffentests. Vorerst allerdings geht der Bewaffnungswettlauf weiter.
Die Welt ist unsicherer geworden.