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Von Wolf Achim Wie­gand

Ham­burg (waw) — Wie immer schauen Glaskugel­guck­er, Auguren, und Propheten an der Schwelle zum neuen Jahr wieder auf die Welt. Manche sehen sie unterge­hen. Andere prog­nos­tizieren, sie werde erblühen. Glauben Sie, wem Sie glauben mögen. Die Abrech­nung wird am 31. Dezem­ber 2022 gemacht.

Den­noch lohnt es sich aufzuzählen, was uns in den kom­menden 365 Kalen­derta­gen erwarten kön­nte. Dabei stütze ich mich nicht auf meine eige­nen Karten, son­dern auf ser­iöse Zukun­fts­deuter wie das britis­che Mag­a­zin “The Econ­o­mist”.

In sein­er Jahre­spub­lika­tion The World Ahead 2022 macht die Redak­tion — laut eigen­er Aus­sage — “zukun­fts­gerichtete Analy­sen, Vorher­sagen und Speku­la­tio­nen” über Poli­tik, Wirtschaft, Tech­nolo­gie und Kul­tur. Eine weit­ere Quelle ist das Project Syn­di­cate, eine inter­na­tionale Medienor­gan­i­sa­tion, die eine Vielzahl glob­aler The­men veröf­fentlicht und syn­diziert.


Was also wird dazu beitragen, die Welt im neuen Jahr zu verändern?

1Neue Waf­fen gegen das Coro­na-Virus: Wenn alles gut geht, dann wird es im Jahre 2022 neue Mit­tel zur Bekämp­fung des Virus und sein­er Krankheits­form Covid-19 geben. Zumin­d­est gut geimpfte Men­schen in wohlhaben­deren Län­dern wer­den das dritte Pan­demie­jahr bess­er bewälti­gen kön­nen. Für ihre Mit­men­schen in nicht so gut aufgestell­ten Regio­nen wird es schwierig bleiben.

In vie­len Län­dern wird das Virus auch 2022 weit­er wüten. Das hat ökonomis­che Auswirkun­gen: Nach Berech­nun­gen der Gates Foun­da­tion wer­den die Durch­schnitt­seinkom­men in Natio­nen mit niedrigem und mit­tlerem Einkom­men­sniveau nur zu einem Drit­tel wieder auf das vor­pan­demis­che Niveau her­ankom­men. In fort­geschrit­te­nen Volk­swirtschaften wird zu 90 % der Fall sein.

Zugle­ich wer­den Bewohn­er ärmer­er Län­der auf­grund von Ver­trieb­ss­chwierigkeit­en und anderen Fak­toren weit­er­hin nicht aus­re­ichend geimpft sein. Die Folge: Höhere Sterbe- und Krankheit­srat­en und eine schwächere wirtschaftliche Erhol­ung. Beson­ders prob­lema­tisch wird es für Impf­stof­fliefer­un­gen auf der „let­zten Meile“ in abgele­ge­nen Orten der Welt wer­den. Das kön­nte einen “Stau” bei der Liefer­l­ogis­tik her­vor­rufen und Her­steller zu Pro­duk­tions­drosselun­gen zwin­gen, glaubt Airfin­i­ty, ein Anbi­eter von Life-Sci­ence-Dat­en.


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2Inter­na­tionale Reisen wer­den wieder ein­fach­er wer­den. Aber: Es wird bei Ein­schränkun­gen bleiben. Experten erwarten, dass sich Touris­mus und Geschäft­sreisen erst 2024 wieder auf das Niveau des Jahres vor Coro­na, 2019, nor­mal­isieren wer­den.

Das bedeutet:

Flugzeuge wer­den weit­er­hin besten­falls hal­b­voll sein und auf vie­len Flughäfen wird nur dün­ner Pub­likumsverkehr herrschen. Laut der World Trav­el Organ­i­sa­tion, der Touris­mus­be­hörde der Vere­in­ten Natio­nen, gin­gen die Ein­reisen weltweit im Jahr 2020 um fast 75 % zurück. Damit wer­den etwa eine Mil­liarde Men­schen keine Reise ins Aus­land ange­treten haben.

Im Jahre 2022 wer­den Flugzeuge wieder aus­ge­lasteter sein, ins­beson­dere Bil­ligflieger. Aber: Viele Unternehmen haben erkan­nt, dass man Kon­feren­zen und Besprechun­gen auch in Videoan­rufen abhal­ten kann — das ist bil­liger und effek­tiv­er, als eine Präsen­zreise zum Kun­den mit Leer­lauf und Über­nach­tungskosten. Die Folge für Reise‑, Hotel- und Flugver­anstal­ter liegt auf der Hand.


3Übergewichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen wird weltweit ein immer größeres Prob­lem sein. Vor allem in Asien und Afri­ka. Der Grund: Die Pan­demie hat den Nach­wuchs in weit­en Teilen der Welt zur Bewe­gungslosigkeit verurteilt.

Am schlimm­sten ist es Experten zufolge auf den Philip­pinen, wo es Kindern über ein Jahr lang ver­boten gewe­sen ist, ihre Häuser zu ver­lassen. Die Kon­se­quen­zen aus der Stuben­hock­erei dürften nicht nur dort 2022 immer deut­lich­er wer­den.

Übergewicht bei Kindern — ein Prob­lem der Armen

Ein­er der deprim­ierend­sten Trends ist der Anstieg der Fet­tleibigkeit bei Kindern. Eine Lancet-Studie prog­nos­tiziert, dass die Zahl der Adi­posi­taskranken bei Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 19 Jahren erst­mals höher sein wird, als die der Erwach­se­nen.


4Die Zahl der Men­schen in extremer Armut sinkt wieder. Das klingt erstaunlich. Aber der — unter dem Strich — weltweite Rück­gang an Coro­n­aerkrankun­gen wird bedeuten, dass freige­set­zte Men­schen wieder in den Arbeit­sprozess zurück­kehren und Geld ver­di­enen kön­nen. Covid-19 hat­te Mil­lio­nen in die Armut gestürzt. Arbeit­splätze ver­schwan­den.

Ende 2020 mussten fast 750 Mil­lio­nen Men­schen von weniger als 1,90 US-Dol­lar pro Tag leben, berech­nete die World Pover­ty Clock (Weltar­mut­suhr) des World Data Lab. Das Vorher­sage­tool mit Dat­en der Welt­bank und des Inter­na­tionalen Währungs­fonds (IWF) geht davon aus, dass bis Ende 2022 etwa 685 Mil­lio­nen Men­schen wieder das Einkom­men­sniveau wie vor der Pan­demie erre­ichen wer­den. Beispiele, die The Econ­o­mist bringt:

  • In Nairo­bi wird ein Motor­rad­tax­i­fahrer, der sich während der Sper­rung von Covid-19 monate­lang vor seinem Ver­mi­eter ver­steckt hat, im Jahr 2022 wieder auf der Straße sein und begin­nen, seine Schulden zurück­zuzahlen.
  • Eine Bäuerin im ländlichen Sam­bia wird erle­ichtert sein, dass das örtliche Col­lege wieder geöffnet hat und ihre Ernte für hun­grige Stu­den­ten aufkauft.
  • In Del­hi wer­den städtis­che Migranten, die nach der Schließung der Stadt in ihre Heimat­dör­fer geflo­hen sind, zurück­kehren und Arbeit suchen.

Die Wirtschaft läuft weit­ge­hend wieder an. Coro­na-Opfer wer­den ihre Exis­tenz wieder auf­bauen kön­nen. Aber natür­lich wird ein Teil der Schä­den aus den ver­gan­genen zwei Jahren gar nicht nicht mehr rück­gängig zu machen sein.


5Auch in Deutsch­land tut sich etwas, das die Welt nach Ansicht aus­ländis­ch­er Beobachter mit verän­dern kann: Die neue Ampel­regi­erung von SPD, Grü­nen und FDP wird ver­suchen, in Deutsch­land Fuß zu fassen. Dabei dürfte der neue Bun­deskan­zler Olaf Scholz ver­suchen, den in Deutsch­land gewohn­ten Kon­sens­drang von Angela Merkel zu bewahren.

Aus: The Econ­o­mist

Die Welt fragt sich unter­dessen: Wird das deutsche Drei-Parteien-Exper­i­ment funk­tion­ieren? “Opti­mis­ten hof­fen, dass die Ampelkoali­tion mehr sein kön­nte als die Summe ihrer Teile,” stellt The Ecomist fest. Die Grü­nen kön­nten Impulse für Maß­nah­men gegen den Kli­mawan­del geben, die FDP zu Ent­bürokratisierung und Dig­i­tal­isierung. Gemein­sam kön­nten die bei­den kleineren Parteien eine gemein­same Basis für bürg­er­liche Frei­heit­spro­jek­te wie die Legal­isierung von Mar­i­hua­na und die Über­ar­beitung der deutschen Staats­bürg­er­schafts­ge­set­ze find­en.

Scholz kön­nte unter­dessen seine Schlagkraft nutzen, um die näch­ste Phase des indus­triellen Wan­dels in Deutsch­land mitzus­teuern und den europäis­chen Part­nern zu ver­sich­ern, dass er den Kon­sens­drang seines Vorgängers beibehält. The Econ­o­mist:

Nach Jahren des Man­ageris­mus von Frau Merkel wer­den die Parteien ver­suchen, sich als kollek­tive Kraft der Mod­ernisierung zu präsen­tieren. Deutsch­land wird im Jahr 2022 eine Inno­va­tion in der Regierungs­führung ein­leit­en.

Tom Nut­tall, Berlin-Kor­re­spon­dent von The Econ­o­mist

6Im Jahr 2022 wer­den mehrere ehrgeizige Wel­traum­mis­sio­nen starten. Dabei ste­ht für nationale Wel­traum­be­hör­den und pri­vate Unternehmen viel auf dem Spiel.

So wird die Europäis­che Wel­trau­mor­gan­i­sa­tion (esa) Im Mai eine mit Schw­erkraft gelenk­te Sonde zu den eisi­gen Mon­den des Jupiter starten. Das ist der bei weit­em der größte Plan­et im Son­nen­sys­tem – mehr als dop­pelt so mas­siv wie alle anderen Plan­eten zusam­men. Das Pro­jekt JUICE (JUpiter ICy moons Explor­er) wurde beim transeu­ropäis­chen Flugzeubauer Air­bus entwick­elt.

Die Kreuz­fahrt zum Jupiter wird über siebenein­halb Jahre dauern. Nach Ankun­ft wird JUICE weit­ere dreiein­halb Jahre im Jupiter­sys­tem ver­brin­gen. Haup­tauf­gabe: Erforschung der drei größten Eis­monde, um her­auszufind­en, ob Leben auf diesen Zwerg­plan­eten möglich ist. Erste Ergeb­nisse sollen 2030 auf der Erde ein­tr­e­f­fen.

Wir haben nicht viel Spiel­raum für Fehler

JUICE-Pro­jek­t­man­ag­er Giuseppe Sar­ri

Der Mond der Erde wird sein­er­seits auch viel Bewe­gung erleben:

  • Indi­en, Japan, Rus­s­land und Süd­ko­rea haben Mis­sio­nen zu dem Erd­tra­ban­ten angekündigt.
  • Die US-Raum­fahrt­be­hörde NASA plant im Jahr 2022 sog­ar 18 Mis­sio­nen zur Vor­bere­itung des Mond­lan­de­pro­gramms Artemis.
  • Das franzö­sisch-ital­ienis­che Unternehmen Thales Ale­nia Space kon­stru­iert für die NASA die Hülle der kün­fti­gen Raum­sta­tion Gate­way, die in eine Mon­dum­lauf­bahn gebracht wer­den soll.

7Der Kampf um Video-Stream­ing wird glob­al. Im “Wet­tbe­werb um die Augäpfel” (The Econ­o­mist) wer­den alte und neue Stream­er-Allianzen antreten, meist aus Hol­ly­wood und dem Sil­i­con Val­ley. Drei Platzhirsche und Unter­hal­tungs­gi­gan­ten wer­den den Kampf in weit­en Teilen der Welt allerd­ings unter sich aus­machen und New­com­er auf Dis­tanz hal­ten:

  • Welt­führer Net­flix startet die vierte Staffel seines Sci­ence-Fic­tion-Hits „Stranger Things“.
  • Ama­zon Prime Video plant ein aufwendi­ges Spin-off von „Herr der Ringe“. Her­stel­lungskosten: Fast eine halbe Mil­liarde Dol­lar.
  • Apple tv+ wird sich auf mehr als die 100 Län­der aus­bre­it­en, in denen es schon aktiv ist.

8“Die Welt erwacht mit der Geißel des ille­galen Fis­chfangs” — so beschreibt The Econ­o­mist eine der hässlichen Seit­en im glob­alen Verteilungskampf um Lebens­mit­tel.

Foto: The Econ­o­mist

Ille­gale, nicht gemeldete und unreg­ulierte Fis­cher­boote sind die neuen Pirat­en

Dominic Ziegler, The Econ­o­mist

“Alt­modis­che Pira­terie ist nicht mehr die schlimm­ste Geißel der men­schlichen Aktiv­itäten auf dem Ozean,” schreibt The Econ­o­mist. Die zweifel­hafte Ehre falle vielmehr den­jeni­gen zu, die sich an der ille­galen Aus­beute im Indis­chen Ozean und im Paz­i­fik beteiligten. Diese “unreg­ulierte Fis­cherei” (Fach­jar­gon) mache 20 — 50% der weltweit­en Fänge aus.

Die Betreiber dieses Raubzuges in unseren Meeren und Ozea­nen han­deln ohne Lizen­zen, jagen geschützte Arten oder ver­wen­den so fein­maschige Net­ze, dass ver­boten­er Beifang mitkommt. Das sei “der Haupt­grund für den Rück­gang der Fis­chbestände” – nur ein Fün­f­tel der kom­merziell genutzten Arten werde noch nach­haltig befis­cht. Das Vorge­hen koste Küsten­staat­en jährlich über 20 Mil­liar­den Dol­lar Ein­nah­men und bedro­he weltweit die Exis­tenz von Mil­lio­nen Kle­in­fis­ch­ern.


9 Autokrat­en wer­den weit­er­hin Dis­si­den­ten im Aus­land ver­fol­gen: “Vor 2021 kon­nten sich nur wenige Men­schen vorstellen, dass ein nationaler Führer die Ent­führung eines aus­ländis­chen Flugzeugs anord­nen würde, um einen Dis­si­den­ten zu fassen,” beklagt The Econ­o­mist.

Der belarus­sis­che Dik­ta­tor Alexan­der Lukashenko hat es den­noch getan. Da ihm das Kid­nap­ping von Roman Pro­tase­witsch und sein­er Part­ner­in Sofia Sape­ga aus dem Luftraum trotz west­lich­er Sank­tio­nen nicht den Kopf gekostet hat, kön­nten sich andere autoritäre Herrsch­er ermutigt fühlen, ähn­liche Untat­en zu bege­hen.

Auch die belarus­sis­che Schutz­macht Rus­s­land ist mit der Ver­fol­gung von poli­tis­chen Abwe­ich­lern im Aus­land nicht zim­per­lich. Das Berlin­er Kam­merg­ericht hat kür­zlich den rus­sis­chen Staats­bürg­er Wadim Krasikow wegen Mordes an einem Putin-kri­tis­chen Georgi­er zu lebenslanger Haft verurteilt. Erst­mals benan­nte es in der Urteils­be­grün­dung klar die Hin­ter­män­ner des Auf­tragsmörders: staatliche Stellen der rus­sis­chen Föder­a­tion. Außen­min­is­terin Annale­na Baer­bock hat zwei rus­sis­che Diplo­mat­en aus­gewiesen. Den­noch kann es über kurz oder lang zu ähn­lichen Tat­en kom­men.

Im Jahr 2022 wird es noch mehr solch­er Auss­chre­itun­gen und eine größere Vielfalt an Tätern geben. Kleinere Staat­en kopieren größere. Lukaschenko hat viel vom rus­sis­chen Präsi­den­ten Wladimir Putin gel­ernt.

The Econ­o­mist

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0 Zer­bröseln die USA? Die west­liche Schutz­macht ist inner­lich und äußer­lich bis zum Zer­ber­sten anges­pan­nt. Recht­spop­ulis­ten unter Führung von Ex-Präsi­dent Don­ald Trump haben immer mehr Ober­wass­er. Das aus­gek­lügelte poli­tis­che Aus­tarierungssys­tem von “Checks and Bal­ances” nimmt Schaden. Die west­liche Vor­ma­cht unter dem Demokrat­en Joe Biden leis­tet sich einen harten Machtkampf aus­gerech­net in ein­er Zeit, in der auch äußere Kon­flik­te desta­bil­isierend wirken kön­nen:

Die kon­fronta­tiv­en Beziehun­gen zwis­chen den USA und Chi­na wer­den sich ver­mut­lich noch erhe­blich ver­schlechtern. Sollte die kom­mu­nis­tis­che Volk­sre­pub­lik auf das demokratis­che Tai­wan los­ge­hen kön­nte anhal­tende Insta­bil­ität in Asien die Folge sein. Europa müsste sich gegenüber dem riesi­gen Han­delspart­ner Chi­na klar posi­tion­ieren. Wie wahren wir unsere Inter­essen, wenn der große Part­ner sich zer­hackt?


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Fazit

“Für 2022 ist es schwierig, opti­mistisch zu sein,” schlussfol­gert The Econ­o­mist nach der Aufzäh­lung viel­er erwart­bar­er Trends, von denen die oben präsen­tierten nur eine Auswahl sind. Viele weit­ere Prob­leme wer­den Frei­heit, Demokratie und Men­schen­rechte her­aus­fordern. Zu den ungelösten Auf­gaben gehört auch das Rin­gen um den Abbau schädlich­er Treib­haus­gase nach dem Scheit­ern der COP26-Kli­makon­ferenz 2021 in Glas­gow.

Alle Regierun­gen in der Welt wer­den im Jahr 2022 eine Menge kom­pliziert­er Entschei­dun­gen zu tre­f­fen haben, die unser Wertesys­tem in Frage stellen kön­nten.