“Pussy Riot”, die bekannteste Band Russlands, ist auf Europatournee. Während andere Künstler aus Putin-Land – Dirigenten, Sängerinnen, Instrumentalvirtuosen und selbst russische Komponisten – mancherorts boykottiert werden ist das Moskauer Künstlerkollektiv willkommen. Es symbolisiert wie kaum andere Personen die kompromisslose Opposition gegen Wladimir Putin.
Hamburg (waw) – Uff, das war ein hartes Stück Moderatorenarbeit! Ich habe die sperrige russische Punkband “Pussy Riot” interviewt. Live bei einem Podiumsgespräch. Nach ihrem Konzert im ausverkauften Kleinen Konzertsaal der Hamburger Elbphilharmonie.

Mit “Pussy Riot” zu sprechen ist tricky. Ich habe eingebildete Kanzler, eitle Künstler und andere selbstverliebte Kreaturen gesprochen. Ich habe Krisenregionen besucht, wo geschossen wurde. Aber noch nie talkte ich live mit AktivistInnen, die politischen Hass so leidenschaftlich und kompromisslos zur Schau stellen.
Talk mit Mascha
Alle Bandmitglieder sind Mitte 30 Jahre alt. Einige von ihnen haben Schreckliches durchgemacht. Lagerhaft unter harten Bedingungen. Entwürdigende Schauprozesse. Hausarrest. Zwei der Russinnen konnten sich unter Lebensgefahr trickreich aus der Moskauer Drangsalierung befreien und in den Westen absetzen.
Hart sind sie geworden: die studierte Multimediakünstlerin Diana Burkot (37), die Ex-Polizistin Olga Borissowa und vor allem die 35jährige Tournee-Frontfrau Maria “Mascha” Alekhina, die Mutter der Kompanie. Sie hat gelernt sich durchsetzen. Im Lager, unter Hausarrest, in dauernder Verfolgung. Sie hat das alles ausgehalten. Sie wurde nie gebrochen. Sie hält auch in der Freiheit das Heft in der Hand. Mascha ist die Tongeberin der Tournee.





„Mein Russland ist im Gefängnis“
Marija Wladimirowna Alekhina, “Mascha”

- 2006: Studentin für Journalismus in Moskau, erste Festnahme
- Greenpeace-Aktivistin
- 2007: Mutter eines Sohnes
- 2011: Aktiv bei Pussy Riot, Putin-kritische Performances
- 2012: Weltweiter Ruhm mit „Punk-Gebet“ in Moskauer Kathedrale. Untersuchungshaft. Hungerstreik. Prozess: zwei Jahre im Straflager Nischni Nowgorod
- 2013: Begnadigung vor Olympischen Spielen
- 2021: Nächtliches Ausgangsverbot
- Mai 2022: Aljochina zerschneidet die Fußfessel und setzt sich nach Litauen ab
- Wenige Tage später: Europatournee
Schwitzend vom hochenergetischen 90-Minuten-Auftritt macht Mascha im anschließenden Talk gleich zu Beginn klar: “Wir wollen nicht über uns selbst sprechen. Wir sind nicht wichtig. Wichtig ist unsere Mission: Die Verdammung des faschistischen Angriffskrieges unserer Führung gegen die Ukraine.”
Persönliches habe zurückzustecken. Man habe keine Zeit für Plaudereien. Den anderen Frauen schneidet Mascha schon mal das Wort ab oder sie antwortet selbst auf Fragen an die Anderen.
Mascha ist eine Frau, die gewohnt ist, abzuwehren. Sie vermutet misstrauisch eine Finte, wenn der Frager nur Interesse hat. Sie hat sich in den vergangenen Jahren in Haft und im Lager durchsetzen müssen, um zu überleben. Deshalb ist Mascha auch in Freiheit immer auf dem Sprung, einen Angriff zu kontern.
Doch auch eine Mascha tickt nicht nur kontrolliert. Ihr und den anderen zwei Frauen war zu entlocken:
Die Zahlungen Europas für Energie vom Kreml finden sie blöde. Die Westsanktionen gegen die Russische Föderation machen sich in “schwarzen Schaufenstern” der Einkaufszentren bemerkbar (McDonald’s, H&M und andere haben sich zurückgezogen). Und: Das für neun Jahre verbannte Giftopfer Alexei Navalny hat die bestorganisierten Oppositionstruppen.
Stakkatoartiger Multimediacocktail
Möchte oder kann die Gruppe nach ihrer Europatournee nach Russland zurückkehren? Das ließ das knastgewohnte Quartett etwas zögernd offen (es drohen 15 Jahre Haft). Ich vermute: Sie werden heimkehren. Und die Verhaftung, Aburteilung und Strafe multimedial ausschlachten. Als neuen kantigen Schlag gegen das abgrundtief verhasste System Putin. Sie werden das “zelebrieren”. Und das, wie immer, hochprofessionell und PR-bewusst.
Feuriger als das Reden verlief der vorangegangene Auftritt vor über 500 Menschen. Ein schriller stakkatoartiger Multimediacocktail über “Pussy Riot”-Taten. Auf der riesigen Leinwand laufen körnige Videos mit geschockten Gläubigen bei der spektakulären Kathedralen-Aktion. Ein spontanes Konzert vor der Kremlmauer ist dokumentiert (dort singen sie „Putin pisst sich in die Hose“ – und werden festgenommen, wieder einmal). Dazu brüllen die drei Frauen schockierende Erlebnisberichte über das Lagerelend in russischer Rap-Manier ins Mikrofon – es geht um ewige Verhöre, unsinnige Kommandos, nervenzermürbende Psychoquälereien.
Das sind sehr scharfe, sehr kompromisslose Botschaften. Sie sollen Russlands herrschende Klasse treffen. Diktator Wladimir Putin zuallererst. Ihn prangern “Pussy Riot” im feministischen Stil als führenden Macho eines protzenden penisgesteuerten Mannesbundes an.
Feministische Nervensägen für den Gottesmann
Zweiter Lieblingsfeind: Das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt, der Moskauer Metropolit Kyrill I. (76). Dieser enorm mächtige weißbärtige Priester ist ein unerbittlicher erzkonservativer Reformfeind. Vor allem ist er ein Busenfreund des nach außen gläubig auftretenden Präsidenten Putin. Hartnäckig halten sich Behauptungen, der “russische Papst” sei beim Handel mit Tabak, Erdöl und anderem ein schwerreicher Mann geworden.
Bei der “Spezialoperation” Russlands gegen die Ukraine gehe es darum, “auf welcher Seite Gottes die Menschheit stehen wird.” Den Konflikt hätten westliche Regierungen ausgelöst, die – o Schreck! – ganz schlimme “Befürworter von Schwulen- und Lesbenveranstaltungen” seien.
Kyril I., Metropolit
Was hält Pussy Riot von pazifistischen Rufen nach einem Kompromiss zur raschen Beendigung des Ukraine-Krieges? „Was würden diese Leute sagen, wenn Putin in Deutschland einmarschieren würde? Gebt ihm Deutschland oder einen kleinen Teil?“
Mascha
Eine Wasserdusche und der Reiz der Prominenz
Musikalisch wurde “Pussy Riots” Auftritt markerschütternd begleitet von Freejazzsaxophonist Anton Ponomarew. Die hochwertige Elphi-Technik reproduziert jeden seiner gellenden Töne akkustisch fein ziseliert. Jeder Schlag von Drummerin Diana sitzt. Jeder Schrei und rap-artige Vers der Sängerinnen dringt auch in die letzte Ohrmuschel.
Zwischendurch: Ziemlich feuchte Wasserdusche für die Erstreihenbesucher aus Mineralwasserflaschen! Zusätzlich: ohrenbetäubende getrommelte Trommelfellhiebe, wenn Diana – übrigens ein bekanntes Gesicht der Moskauer D.J.-Szene – den Stuhlblock eins bis sechs provozierend mit Schlagwerk umkreist.
Gemütlich sollen es das Publikum nicht haben. Es ist an der Elbe, auf den schnieken Sesseln, in einem teuren, kartonähnlichen, aber vom weltbesten Akustiker der Welt ausstaffierten Saal, bunt gemixt. Glamourgestalten aus der LGBTQ-Szene. Ein paar Anarchos. Brave bildungsbürgerlich beflissene Perlenkettenhanseatinnen gesprenkelt mit freiheitlich grün oder liberal Gesinnten.
Auftritt mit Zamperoni und Madonna
Provokation hin oder her: Es war ein sauberes Punkkonzert “im kleinen schicken Saal der Elbphilharmonie”, so ein Kritiker.
“Pussy Riot” gehören zehn Jahre nach der Gründung zur Ersten Liga internationaler Protestbewegungen. Ihre kompromissloser kollektiver Kampf kontra Kreml, Korruption und Kirche setzt Standards. Klimaprominenz wie Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg wirkt dagegen niedlich.

Kein Widerspruch ist es für die Frauen, den Glanz der Berühmten zu nutzen. Mascha hat schon mit Madonna auf der Bühne gestanden, der Popikone, die einst mit Hits wie “Like A Virgin” oder “Prayer” das kirchengläubige Volk schockte – und Millionen verdiente.
In Kürze geplant ist eine Kooperation der zweiten Frontfrau Nadeschda Tolokonnikowa (nicht auf Tour dabei) mit Shootingstar Salem Ilese (22). Der Erstlingshit der Amerikanerin, “Mad At Disney”, nimmt das verlogene Frauenbild der Hollywood-Traumfabrik aufs Korn. Nun wollen Salem und Nadeschda in den Vereinigten Staaten gemeinsam gegen die Einschränkung reproduktiver Rechte – also liberaler Abtreibungsregelungen – kämpfen.
Im September ist ein Auftritt in den USA geplant. Beim “Life is Beautiful Festival” in der Innenstadt des Spielerparadieses Las Vegas, Nevada, eines der weltweit umsatzstärksten Festspiele. Ich bezweifele, dass “Pussy Riot” das Konzertreihenmotto so fröhlich interpretieren, wie es die Veranstalter tun.
Halt!
An dieser Stelle möchte ich trotz meines vorstehenden Berichtes zugeben, dass die russischen Damen keineswegs nur hart hart drauf sind. Denn wir haben während des Talks und Backstage auch mal gelacht. So Weiß und Schwarz, wie es die “Pussy Riot”-Show suggeriert, ist das Leben nun mal nicht.
Frage: “Mascha, was denkt ihr über die Deutschen?”
Antwort: – Schweigen. Große Augen.
Frage: “Na, wenn ihr durch die Lande tourt, was hört ihr von Deutschen?”
Antwort, zögerlich: “Die kennen wir nicht. Wir sehen nur Konzertsäle…” (schmunzelnd)
Gut, dass ihr euch ein Lächeln bewahrt habt, Diana, Olga und Mascha.
Das gibt Hoffnung auf schwerelosere Zeiten, ihr Riot Grrls!
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