Der folgende Text über Russland, Putin und deren Zukunft ist in Gänze ein Zitat aus dem T-Online-Newsletter “Tagesanbruch”, in dem Bastian Brauns in der Rubrik “Was heute wichtig ist” seine Meinung schreibt (Foto: Kreml):
DIE WESTLICHE ZURÜCKHALTUNG
Nachdem die Welt am Wochenende für rund 36 Stunden den Atem anhielt, scheint die Rebellion in Russland nun vorerst abgewendet… (Aber) der vereitelte Aufstand von Prigoschin scheint Annahmen zu bestätigen:
Laut einer Umfrage der amerikanischen Denkfabrik “Atlantic Council” von Anfang dieses Jahres rechnet unter 167 internationalen Politikexperten fast die Hälfte (46 Prozent) von ihnen damit, dass Russland bis 2033 entweder zu einem sogenannten “Failed State” (zu Deutsch: Gescheiterter Staat) wird oder auseinanderbricht.
Jeder Fünfte von ihnen (21 Prozent) geht sogar davon aus, dass Russland das Land auf der Erde ist, das am wahrscheinlichsten zu einem “Failed State” wird, noch weit vor Afghanistan. Als wahrscheinliche Gründe nennen die Experten: eine Revolution, einen Bürgerkrieg, politischen Zerfall und andere innenpolitische Gründe. Höchste Zeit also, sich damit auseinanderzusetzen.
Sollte Putin eines Tages sterben oder aus dem Amt getrieben werden, würde womöglich ein langwieriger Machtkampf zwischen Ultranationalisten wie Jewgeni Prigoschin oder dem tschetschenischen Anführer Ramsan Kadyrow und den konservativen Moskauer Eliten folgen.
Aufgrund der immer weiter wachsenden Armut könnte es auch in der Bevölkerung zu Aufständen kommen. Ein Bürgerkrieg in dem multiethnischen Riesenstaat gilt sowohl unter Pessimisten, als auch unter Optimisten als kaum vermeidbar, auch weil Putin zur Sicherung seiner Macht als Diktator mächtige Privatarmeen, wie die Gruppe “Wagner”, entstehen ließ.
Über mehr als zwei Jahrzehnte wurde der russische Staat unter Putin immer mehr auf seine Person zugeschnitten und zentralisiert. Es ist schwer vorstellbar, was das System noch zusammenhalten könnte, wenn er plötzlich nicht mehr an der Spitze stünde. Man darf sich zwar nicht in naivem Wunschdenken verlieren. Man darf aber auch nicht die Augen verschließen vor dem, was uns bevorstehen kann. Ein Zusammenbruch Russlands würde die ganze Welt betreffen.
In seiner Analyse mit dem Titel “Failed State: Ein Leitfaden zum Zerfall Russlands” schreibt der polnischstämmige Außenpolitikexperte Janusz Bugajski: “Der Untergang der jetzigen Russischen Föderation wird wahrscheinlich nicht einseitig verlaufen, anders als jener der Sowjetunion, als die fünfzehn Unionsrepubliken fast automatisch zu unabhängigen Staaten wurden.”
Der Zerfall des Staates werde wahrscheinlich “chaotisch, langwierig, andauernd, konfliktreich und zunehmend gewalttätig sein”. Dies könne zur vollständigen Trennung einiger Bundeseinheiten und zur Zusammenlegung anderer zu neuen föderalen oder konföderalen Vereinbarungen führen.
PFLICHT ZUR VORBEREITUNG
Für die Ukraine wäre ein solches Szenario womöglich zunächst hilfreich. Für den Rest der Welt würde es bedeuten: Ein seit Jahrzehnten bestehender Machtblock würde mit einem Mal zerfallen. Es gibt pessimistische Szenarien, in denen China dann auf den Plan treten und zumindest weite Teile des Landes zu Vasallen-Regionen machen könnte. Selbst optimistische Szenarien weisen darauf hin: Ein Zerfall Russlands würde eine dramatische geopolitische Dynamik auslösen.
Der Westen hat gute diplomatische Gründe dafür, sich offiziell nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischen zu wollen. Einen Regimewechsel herbeizureden, wie es dem US-Präsidenten Joe Biden schon passiert ist, kann gefährliche Folgen haben. In Wahrheit beeinflussen schon die Waffenlieferungen und die Wirtschaftssanktionen auch die inneren Verhältnisse in Russland. Dafür braucht es gar keine CIA-Verschwörungstheorien.
Sich kommunikativ zurückzuhalten, entbindet unsere Regierungen aber nicht von der Pflicht, Vorkehrungen zu treffen. Sollte das größte Flächenland der Erde politisch kollabieren, entstünde mindestens eine so heikle Situation wie während des Ersten Weltkrieges, als das Zarenreich unter der Revolution 1917 unterging. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wäre das Ende der Russischen Föderation erneut eine historische Herausforderung.
NEUE BÜNDNISSE SCHLIESSEN
Wenn es wirklich dazu kommt, dürfen die Fehler von damals nicht wiederholt werden. Dem ukrainischen Präsidenten muss man recht geben, wenn er fordert: “Die Welt sollte keine Angst haben.” Sich von der Furcht vor einem Zusammenbruch der russischen Nuklearmacht leiten zu lassen, darf jedenfalls nicht noch einmal passieren.
Dieses Mal müssen die Sicherheitsbedenken der Anrainerstaaten berücksichtigt werden. Sie dürfen nicht verkauft werden. Wie etwa die Nuklearwaffen der Ukraine beim Budapester Memorandum im Jahr 1994. Dieses Mal muss der Westen auf die Warnungen der baltischen, aber auch der zentralasiatischen Staaten und der Länder im Kaukasus hören. Um das zu erreichen, muss die von Selenskyj beschworene Einheit aber noch weit über die des bisherigen Bündnisses für die Ukraine hinausgehen.
Nicht ohne Grund lud US-Präsident Biden den indischen Präsidenten Narendra Modi vergangene Woche zu einem mehrtägigen Staatsempfang ein, samt Rede vor den Abgeordneten des US-Kongresses. Mit seinen 1.426 Milliarden Menschen hat Indien im April dieses Jahres die Volksrepublik China als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholt. Biden ist auf dem richtigen Weg: Gemeinsame Interessen gegen China und Russland auszuloten, ist ein wichtiger erster Schritt unter Demokratien – so unterschiedlich sie auch funktionieren mögen.
Die Rebellion in Russland ist abgewendet – zum Glück. Denn wir wären darauf (noch) nicht vorbereitet.