PUTINS SCHWARZMEER-BLOCKADE: Über den Wellen muss die Freiheit doch grenzenlos sein…

Von Wolf Achim Wiegand (Titelfoto: AFP)

Hamburg (waw) – Ob er wohl mulmigen Gedanken nachhing, als der Kapitän des deutscher Großfrachters “Joseph Schulte” seinen Steuermann aus dem ukrainischen Hafen Odesa auslaufen und ins Schwarze Meer navigieren ließ? Das ist nicht überliefert. Aber Gedanken wird er sich bei aller Professionalität schon gemacht haben.

Denn: Zwei unsichtbare Gefahren lauerten in dem großen Binnenmeer des östlichen Mittelmeeres auf den 300 Meter langen Containerriesen. Einerseits tödliche russische Treibminen. Und zweitens: Die gnadenlose russische Kriegsmarine. Mit beiden droht Kreml-Feldherr Wladimir Putin. Der will seine Kreise in der Region zwischen Bosporus und Krim nicht gestört sehen – einer Gegend, die schon im Zarenimperium und erst recht im Sowjetreich als russisches Sprungbrett zur weiter entfernten Welt betrachtet wurde.

Die Fahrt der “Joseph Schulte” ist inzwischen Geschichte. Alles ging gut, nachdem das unter Flagge von Hongkong registrierte Schiff der Hamburger Reedereigruppe Bernhard Schulte die Taue am Kai von Odesa abwarf und am Zielort Istanbul festmachte. Er war der erste vieler seit Kriegsbeginn festsitzender Frachter, der die Abfahrt wagte – ein “Eisbrecher” sozusagen. Ihm dürften nach und nach weitere der über 60 unfreiwillig gestrandeten Seefahrzeuge folgen.

Die befahrene Seesicherheitszone – von der Ukraine dicht an der Küste und gegen Russlands Interesse eingerichtet – hielt bei der Premiere stand. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach in einer Botschaft von einem „wichtigen Schritt zur Wiederherstellung der Freiheit der Schifffahrt“.

Und nun?

Punktsieg der Ukraine gegen Putin. Die Strategie des Kremls, die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden, ist wirkungslos. Vorerst. Denn:

Bei aller Freude für die Seeleute, ihre Familien, die Ukrainer und die Schiffsbetreiber: Die Fahrt der “Joseph Schulte” hat das eigentliche Problem nicht gelöst. Und das ist, dass Russland sich nicht auf Drohungen beschränkt, sondern sich sogar anmaßt, Frachtkontrollen in internationalen Gewässern durchzuführen.

“Wenn wir Putin damit durchkommen lassen, wird das katastrophale Folgen für die gesamte Region haben, nicht nur für die Ukraine”.

Ben Hodges, ehemaliger Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa

Aufnahmen der GoPro-Kamera eines russischen Spezialsoldaten zeigen, wie ruppig die russische Marine kürzlich mit der türkischen Crew des gestürmten Frachtschiffes “Sukra Okan” umging, das unter der Flagge des Pazifikstaates Palau im Schwarzen Meer unterwegs war. Ein Patrouillenboot soll sogar Warnschüsse abgegeben haben.

Mit solchen piratengleichen Taten verletzt der Kreml das weltweit eherne Gesetz, dass die hohe See frei für Alle zu bleiben hat. Moskau tut nach dem Rückzug aus der Schwarzmeer-Getreideangriff das Gegenteil. Seine Flotte (BSF) behindert den zivilen Schiffsverkehr in die Ukraine. Nach Angaben des Weißen Hauses hat der Aggressor weitere Seeminen auf den Routen zu Häfen verlegt. Und er hat begonnen, ukrainische Häfen und deren Städte rücksichtslos zu bombardieren, selbst Getreidelager mit Korn für die Welt.

“Das Risiko eines direkten Angriffs Russlands auf die Handelsschifffahrt und von Kollateralschäden ist SEHR HOCH”

Warnung des Alliierten NATO-Seekommandos (MARCOM)

Russlands alte Ansprüche

Die NATO warnt vor neuen Eskalationsgefahren. Dazu gehört die Störung elektronischer Schiffsnavigationsanlagen, das Fehlleiten von Steuerdaten (AIS-Spoofing) und viele andere Arten von Kommunikationsinterferenzen und Cyberangriffen.

Aus Sicht des Kremls hat das Schwarze Meer nicht nur Bedeutung wegen der dort gelegenen besetzten Halbinsel Krim und der Ukraine, sondern weit darüber hinaus. Aber es ist ein europäisches Meer. Außer der Ukraine und Russland sind Georgien, die Türkei, Bulgarien und Rumänien die Anrainerstaaten. Moskau hat keinen Dominanzanspruch.

Dabei ist Russland in misslicher Lage. Weil die Ostsee wegen des Beitritts Finnlands und in Kürze auch Schwedens zum “NATO-Meer” geworden ist, bietet sich nur noch auf der nordseegroßen Wasserfläche an der Grenze Asiens und Europas ein Marinetor zur Welt. Zwar liegt die türkische Meerenge Bosporus dazwischen, doch die ist vertraglich frei durchfahrbar. Damit kann Russland-Marine das Mittelmeer und den Süden Europas erreichen, sowie die nordafrikanischen EU-Nachbarn mit dem Nahen Osten. Dazu gehört seine eigene Basis im syrischen Tartus.

Wie geht es weiter?

Am 19. Juli dieses Jahres gab Russland bekannt, dass es alle Schiffe, die in ukrainische Gewässer einfahren, als potentiell bewaffnet und ihre Flaggenstaaten als Kriegsparteien auf ukrainischer Seite betrachten werde. Tatsächlich können nach internationalem Seerecht solche Schiffe, die im Verdacht stehen, militärische Ausrüstung zu transportieren, geentert und durchsucht werden, ja, sogar beschlagnahmt werden.

Andererseits: Angriffe auf die zivile Schifffahrt sind in den meisten Fällen rechtswidrig, betont der norwegische Ex-Kommandeur und -Diplomat Hans Petter Midttun vom Centre for Defence Strategies (CDS), eines ukrainischen Think Tanks für Sicherheitsfragen.

“Russland kann nicht einfach alle Handelsschiffe im Schwarzen Meer als legitime Angriffsziele betrachten, ohne vorher zu prüfen, ob sie am Transport von Schmuggelware und/oder nicht-neutralen Dienstleistungen beteiligt sind, was es offenbar tun wird.”

Professor Steven Haines. Universität von Greenwich, London, UK / David Hammond. Geschäftsführer, Human Rights at Sea, UK

Vermutlich war es ein Fehler, dass das letzte NATO-Kriegsschiff, das nicht aus einem Anrainerstaat stammte, die Region am 2. Januar 2022 verlassen hat. Seitdem eskaliert die russische Marine, beansprucht weite Teile des Schwarzen Meeres als “Übungsgebiete mit scharfer Munition” und schießt von ihren Schiffen aus auf die ukrainische Küste bis in Grenzgebiete vor dem NATO-Land Rumänien.

Um Russland zu stoppen, wird es nicht genügen, dass das Bündnis und seine Verbündeten ankündigt, die Überwachung und Aufklärung in der Schwarzmeerregion verstärken zu wollen, selbst nicht durch den Einsatz von Seeaufklärungsflugzeugen und Drohnen. Denn Putin ist schwerhörig, wenn ihm nichts wehtut.

Der einstige US-Admiral James Stavridis plädiert für die Einrichtung von Konvois im Schwarzen Meer auf der Grundlage umfassender völkerrechtlicher Bestimmungen. Sie sollten die Freiheit internationaler Gewässer durchsetzen und den Schutz humanitärer Schifffahrt in Konfliktgebieten ermöglichen.

Hat jemand den Mut, Putin zu stoppen?

Da die Vereinten Nationen wegen des Vetorechts Russlands keine solche Rolle übernehmen könne, müssten die NATO oder eine “Koalition der Willigen” unter Führung der USA tätig werden. Letzteres ist allerdings unwahrscheinlich, da die USA keine größere Konfrontation mit Russland riskieren möchten.

Stavridis bringt deshalb Großbritannien als Führung einer europäischen Koalition der Willigen ins Spiel. Die kontinentalen NATO-Länder verfügten dafür über genügend Zerstörer, Fregatten und Minenjagdboote, auch über Luftschutz und Luftüberwachung, argumentiert er. Frankreich würde wohl mitmachen, Deutschland und die Türkei eher nicht, heißt es unter Experten.

Der Westen – mit oder ohne die US-Marine – muss ins Schwarze Meer zurückkehren, um dabei zu helfen, die Seeblockade zu durchbrechen, die humanitäre Schifffahrt zur Bekämpfung der weltweiten Hungersnot zu schützen und nicht zuletzt die universelle Freiheit der Schifffahrt zu wahren. Ausbleibendes Engagement wird lokale, regionale und globale Auswirkungen haben.

James Stavridis, ehem. US-Admiral

Es wäre eine Ironie, wenn der Kapitän der “Joseph Schulte”, der sein Schiff an russlandinfizierten Seegebieten vorbei gesteuert hat, mehr Mut bewiesen hätte, als alle westlichen Marinestrategen zusammen…

Immerhin hält der Westen die Augen offen.

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