Europa-Themen der Woche
(Europäische Union) — Was hat die Macher und Beobachter Europas vergangene Woche an- und umgetrieben?
- Politisches Material, das spaltbar ist: Die Forderung nach einer europäischen Atombombe. Wer will das? Siehe unten.
- Verliert die Ukraine den aufopferungsvollen Verteidigungskrieg, weil der Westen zu schlapp ist? Manche fahren ob dieser Aussicht aus der Haut. Scrolle runter.
- Deutschland ist Europas Führungsmacht — beim Betreiben von Bordellen. Ist das wirklich so? Siehe ganz unten.
Das alles und noch viel mehr:
von WOLF ACHIM WIEGAND 🇪🇺
Liebe Leser, das ist mein Gedanke: Kollektive Verantwortung — warum nicht in Gaza?
Zum Jahresbeginn beschäftigen uns in Europa zwei Kriege: Der unmittelbar vor unserer Haustüre in der Ukraine und der im Gazastreifen, auch nur 300 Kilometer von der zypriotischen EU-Außengrenze entfernt. Beide Kriege sind trotz aller Scheußlichkeiten aus Sicht der Verteidiger ethisch und rechtlich legitim, also gerecht. Warum?
In der Ukraine geht es um den Überlebenskampf einer unabhängigen Nation. Sie möchte dem Westen angehören. Es ist unsere ethische Pflicht und unser Interesse, der revisionistischen und imperialistischen Ideologie vom russischen Herrenmenschen entgegenzutreten. Es gibt das Risiko, dass der Kreml seine Bomben, Raketen und Drohnen nach Kyiv künftig auch auf Helsinki, Warschau und Berlin regnen lassen könnte.
In Gaza geht es ebenfalls um den Wert individueller Freiheiten. Die israelische Gesellschaft lebt sie bei aller Kritikwürdigkeit einzelner Akteure vor. Gaza hingegen ist “ein rassistischer, sexistischer, homophober, militaristischer, antidemokratischer, dogmatisch radikalreligiöser Polizeiministaat der absoluten Ungleichheit & Unterdrückung” (Militärsprecher Arye Shalicar).
Dazu kommt: In Gaza haben unzählige Menschen (nicht alle) über brutalste Taten der von ihnen gewählten Hamas gejubelt. Sie haben gejohlt, als verschleppte israelische Mädchen und Greisinnen durch die Straßen getrieben wurden. Sie haben mit Stöcken und Brettern auf Tote eingeschlagen. Ganze Familien halten sich israelische Geiseln — sogar Babys. Das Terrortunnelnetz war allgemein bekannt, selbst Krankenhauschefs spielten dabei mit.
Ich denke: Auch im Nazi-Reich haben Deutsche (nicht alle) mitgemacht oder weggeguckt. Sie haben in der Pogromnacht Beifall gespendet. Sie haben feixend Bücherverbrennungen beigewohnt. Sie haben Juden bespuckt, verraten und ermordet. Später übernahmen wir eine Art kollektive Verantwortung. Wäre das auch für die Menschen in Gaza angebracht?
Atomwaffen für Europa?
Die Europäische Union (EU) sollte eine Atommacht werden. Das schlägt der Militärexperte Carlo Masala vor. Der Wissenschaftler von der Bundeswehr-Universität München sagt, Frankreichs bislang rein nationale Nuklearstrategie könne auch gemeinsam genutzt und bezahlt werden. Zusätzlich könnte die zweite Atommacht Europas, Großbritannien, mit an Bord geholt werden, auch wenn sie kein EU-Mitglied mehr ist.
Der Politikwissenschaftler zeichnet das Szenario vor dem Hintergrund von Befürchtungen, ein womöglich erneut gewählter US-Präsident Donald Trump könnte die NATO-Bündnisverpflichtungen erpresserisch aufweichen und Hilfe nur noch denjenigen unter den Staaten Europas anbieten, die ihm genehm sind. n‑tv.de/politik Auch der renommierte Berliner Politologe Herfried Münkler rät Europa zu einer atomaren Aufrüstung, um besser vor Kriegen geschützt zu sein. deutschlandfunk.de
“Ich sehe weder bei der Bundesregierung noch beim Rest Europas eine ernsthafte Vorbereitung (auf die Rückkehr Trumps). Vermutlich haben wir den richtigen Zeitpunkt auch schon verpasst.”
Carlo Masala
Ukrainekrieg ohne US-Hilfe führen
Europa sollte sich beim Abwehrkampf der Ukraine gegen Russland nicht mehr auf die USA verlassen. Diese Meinung vertritt Christopher Lockwood, der Ressortleiter Europa beim angesehenen britischen Magazin The Economist. Sein Argument:
Wenn nicht in letzter Minute noch ein Wunder geschieht, werde die Gegenoffensive des völkerrechtswidrig angegriffenen Landes scheitern. Es könne “niemand mehr darauf zählen”, dass die USA den Kampf anführen. “Europa wird also, ob es will oder nicht, deutlich mehr Verantwortung für die Ukraine übernehmen müssen.” Das bedeute mehr Geldmittel Europas, mehr militärische Ausrüstung aus Westeuropa und mehr Integration des Kriegslandes in die EU. focus.de/die-welt-2024
„Während Putin bereit ist, alles in den Krieg zu werfen, nimmt die Entschlossenheit der westlichen Unterstützer der Ukraine ab.“
Nina L. Khrushcheva, Professorin für Internationale Politik, New York
EU-Präsidentschaft, Schengenraum, Kultur, Rüstung, Hochwasser
Belgien hat am 1. Januar für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Ministerpräsident Alexander De Croo, dessen Sieben-Parteien-Koalition ähnlich “beliebt” wie die deutsche Ampel ist, wird die Bühne zur Profilierung nutzen: sueddeutsche.de +++ Rumänien und Bulgarien dürfen im März dem Schengenraum beitreten — mit Einschränkungen: zeit.de +++ Für drei Orte hat mit Jahresbeginn das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt begonnen: 🇳🇴 Bodø in Norwegen, 🇪🇪 Tartu in Estland und 🇦🇹 Bad Ischl in Österreich deutschlandfunk.de +++ Finnlands scheidendes Staatsoberhaupt Sauli Niinistö fordert von Europa stärkere Rüstungsbemühungen: merkur.de +++ Die EU hat Hochwasserhilfen für Deutschland und Frankreich mobilisiert: germany.representation.ec
Europas Weg ins All
Im Jahr 2024 könnte Europa wieder zu einer wichtigen Raumfahrtmacht werden. Laut Fahrplan der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) wird im Oktober die Raumsonde Hera zum binären Asteroiden Didymos aufbrechen. Das ist ein Kleinkörper, die sich um die Sonne bewegt. Hera soll dort genauer untersuchen, welche Wirkung ein bewusst von der NASA gesteuerter Aufprall hinterlassen hat, der die Bahn von Didymos verändert hat. Das Projekt hat Bedeutung für Pläne, künftig Asteroide abzulenken, die zerstörerisch auf die Erde zurasen könnten.
Zuvor will die ESA endlich ihre seit Jahren überfällige Trägerrakete Ariane 6 zum Jungfernflug starten. Der (eigentlich gar nicht mehr so) neue Schwerlastflugkörper soll — je nach Wetterlage — zwischen 15. Juni und 31. Juli vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou, Französisch-Guyana, aus abheben und Satelliten ins All tragen: tagesschau.de/wissen. Mehr Raumfahrtpläne weltweit: futurezone.at
Rotes Meer: Europas Schifffahrt auf Umwegen
Der Containerschiff-Riese A.P. Moller-Maersk meidet die weltweit wichtige Handelsroute durchs Rote Meer, nachdem ein weiterer Frachter angegriffen worden ist. Die in Kopenhagen ansässige zweitgrößte Reederei der Welt leitet alle Fahrten zwischen Europa und Asien über die weitaus längere Strecke rund um Südafrika um. Damit fahren fast alle großen Schifffahrtsunternehmen nicht mehr durch den Suezkanal. japantimes.co.jp
Grund: Die vom Iran unterstützte Huthi-Islamistenmiliz im Jemen versucht den Handel in der engen Meeresstraße vor dem Jemen durch Beschuss und Entführungen zu stören, um Israel zu schaden. Auch ein Schiff der deutschen Reederei Hapag-Lloyd ist beschossen worden. Die Aktien der Unternehmen sind in Erwartung höherer Frachtraten im Wert kräftig gestiegen: finanzen.net
Wartesaal Europas
Die Schlange der EU-Beitrittskandidaten ist lang. Die Türkei wartet seit sechs Jahrzehnten auf das Öffnen der Tür. Die Staaten des sogenannten Westbalkans stehen seit zwanzig Jahren davor. Das beweist: Der Verbund aus derzeit 27 Nationen ist durchaus attraktiv. Und: Die EU nimmt nicht leichtfertig Jeden auf, sondern fordert die Befolgung klarer Regeln.
Die langen Wartezeiten erzeugen Frust in den betroffenen Ländern. Das kann im Extremfall zur Abkehr und Zuwendung nach Russland und China führen — hat es teilweise auch schon (Serbien). So schätzen Experten die Lage ein: tagesspiegel.de
Kippt Europa nach rechts?
Die Europawahl im Juni wird einen europaweiten Ruck nach Rechtsaußen bringen. Das erwartet der Politikwissenschaftler Manuel Müller vom Finnish Institute of International Affairs (FIIA, Helsinki). Extreme Zugewinne der radikalen Rechte werde es besonders in Frankreich, den Niederlanden und Belgien geben.
Der Forscher trifft seine Vorhersage nach der Auswertung aktueller Umfragen aus den EU-Ländern. Sein Fazit: Die “neue Rechte” wird im Europa-Parlament künftig 92 der 720 Sitze bekommen — das ist ein Plus von dreißig Sitzen.
Der niederländische Forscher Dick Pels aus Amsterdam bestätigt die Erkenntnisse von Müller. Er beobachtet in Nordeuropa einen völkischen Populismus gegen europäische Integration und Zuwanderung. Im Süden der EU überwiege ein linker Globalisierungs-Populismus mit Kritik an Freihandel. fr.de/politik
Deutschland: “Das Bordell Europas”
Das EU-Parlament will Frauen besser vor sexueller Ausbeutung schützen und fordert ein europaweit einheitliches Kaufverbot für körperlich ausgeübte Erotik. Damit sollen Menschenhändler bekämpft werden, die mit kriminellen Sexdiensten Geld verdienen.
Besonders im Fokus steht Deutschland. Konservative Politiker behaupten, etwa 90 Prozent der hiesigen Prostituierten seien illegal unterwegs. Sie befänden sich damit in den Fängen organisierter Kriminalität. Hintergrund: tagesschau.de