Der europäischste aller anderen Kontinente ist in den vergangenen Jahren aus dem Fokus der Alten Welt weggerückt. Südamerika scheint ganz weit weg zu sein, weil wir – aus guten Gründen – stark auf Russland, China , Nahost oder Nordafrika blicken. Das Problem: Zwischen Amazonas und Anden kommt es zu politischen Entwicklungen, die wir als Vorväterheimat südamerikanischer Einwanderer bisweilen nur noch schwer nachvollziehen können – und auch der Kontinent schaut immer weniger auf uns Europäer, sondern sucht sich neue Partner…

Von Wolf Achim Wiegand (aktualisiert, ähnlich erschienen in FORUM – Das Magazin)

Buenos Aires/Hamburg (waw) – Seit Monaten elektrisiert ein Mann mit wuscheliger Haarpracht und glänzender Lederjacke Millionen Menschen in Argentinien. Er sagt, was man von Politikern in dem Land zwischen Anden und Atlantik sonst nicht hört. Zum Entsetzen der katholischen Kirche outet er sich als Anhänger freier Liebe.

Auch andere von Javier Mileis Zielen sind für brave Bürger des Landes unerhört: Legalisierung von Drogen, Freigabe des Organhandels, unbegrenzte Einwanderung. Selbst das Privatleben entspricht nicht dem Durchschnittsalltag: Milei lebt allein in Buenos Aires – mit fünf Hunden, von denen einer “Milton” heißt, eine Reminiszenz an den neoliberalen Übervater Milton Friedman.

„VIVA LA LIBERTAD CARAJO!“ (Es lebe die verdammte Freiheit!) – das ist der Schlachtruf, den Milei Tag für Tag mit stechendem Blick von Rednerpulten, Fernsehschirmen und SocialMedia-Kanälen aus verkündet. Sein Ziel ist es, Staatspräsident des südlichsten Landes Amerikas zu werden. Am 22. Oktober war die erste Runde – und er hat es geschafft: Der Außenseiter steht am 19. November in der Stichwahl.

Dass die etablierten Parteien Argentiniens den provozierenden Exzentriker als Spinner abgetan haben war ihr größter Fehler. Der Holzhammerkandidat trieb den linkspopulistischen Finanzminister Sergio Massa und die konservative Oppositionelle Patricia Bullrich als Mitbewerber in die Enge. Gerade sein Desperado-Image macht Milei stark.

Javier Milei

Milei gilt als sogenannter Anarchokapitalist. Vor 57 Jahren als Sohn eines Busfahrers geboren absolvierte der heutige Parlamentsabgeordnete ein Ökonomiestudium, wurde Chefvolkswirt einer privaten Rentenversicherung und ist fachbuchschreibender Titularprofessor. Mit Hilfe eines der reichsten argentinischen Unternehmer gründete er die ultrarechte libertäre Parteienallianz La Libertad Avanza („Die Freiheit schreitet voran“). Mit ihr holte er bei den vorigen Wahlen aus dem Stand 17 Prozent Zustimmung.

Teufel, Beelzebub und Maradona

Es sind nicht nur die Armen, die unter schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten leiden. Auch der in Argentinien ausgeprägte Mittelstand kämpft in der drittgrößten Volkswirtschaft des Kontinents bei einer Rekordinflationsrate von 115 Prozent ums Überleben. Rund 40 Prozent der 46 Millionen Menschen sind in die Armut abgerutscht. Grassierende Schattenwirtschaft verdrängt Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Der Staat türmt Milliardenschulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) auf.

Südamerika Länder Landkarte

Das stolze Land des Fußballgottes Maradona ist so am Ende, dass Viele bereit sind, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben – Hauptsache, es tut sich etwas. Mileis Bühnenauftritte mit lauter Rockmusik lockten besonders viele junge Menschen an, deren Zukunft ungewiss ist und von denen die Besten bei der ersten Chance ins Ausland gehen. Sie stört es nicht, dass der exzentrische Volkstribun offen rechtsextreme Positionen vertritt, etwa das Leugnen der Verbrechen unter der Militärdiktatur (1976–1983).

Das Phänomen Milei ist symptomatisch für ganz Südamerika. Im Windschatten der weltpolitischen Wirrnisse wabert der Kontinent von Europa weitgehend unbeachtet vor sich hin. Ein buntes Potpourri an Persönlichkeiten regiert die 13 Nationen zwischen Panama-Kanal und Feuerland.

Im Nachbarland Argentiniens, Chile, wo man gerade den 50. Jahrestag des Militärputsches gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende begangen hat, führt der jüngste Staatschef aller südamerikanischen Zeiten das Zepter. Ex-Studentenführer Gabriel Boric ist erst 37 Jahre alt. Er muss mit hauchdünner Mehrheit die enorme Polarisierung der chilenischen Gesellschaft meistern.

Bei der rechten Opposition, wo es immer noch glühende Anhänger des Diktators Augusto Pinochet, beißt Chiles linksgrüne Ministerriege auf Granit. Ein Verfassungsreferendum, das weltweit revolutionäre Geschlechterparität sowie Umwelt- und Naturschutz festschreiben sollte, ist gescheitert. Die angekündigte Reform des privatisierten Rentensystems liegt auf Eis. Durchsetzen konnte Boric dagegen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden, kostenlose Gesundheitsversorgung und eine Erhöhung des Mindestlohns.

Inzwischen ist der Nachkomme kroatischer Einwanderer in der Realpolitik angekommen. Eineinhalb Jahre nach Amtsantritt sagte Boric der Deutschen Welle: „Wenn man das Amt des Präsidenten übernimmt, muss man sich in bestimmten Bereichen anpassen.“

Gabriel Boric Chile
Gabriel Boric, Chile

Nicht anpassen tut sich Boric indessen in der Außenpolitik. Als einziger Staatsführer Südamerikas stellte er sich hundertprozentig gegen den russischen Angriffskrieg und auf die Seite der Ukraine. Beim Lateinamerikagipfel in Brüssel ermahnte der frühere Revoluzzer seine politischen Freunde deutlich vor Aggressionsgelüsten: „Liebe Kollegen, heute ist es die Ukraine, aber morgen könnte es jeder von uns sein.“

Brasiliens Lula enttäuscht

Damit zielte der chilenische Präsident auch auf den 40 Jahre älteren Politprofi Luiz Inácio Lula da Silva – meist nur Lula genannt – im riesigen Brasilien. Mit ihm hatte Europa nach der Regentschaft des nationalistischen Trump-Fans Jair Bolsonaro auf einen Verbündeten gehofft. Doch es ist unvergessen ist, wie Lula den Parteifreund und deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Ukraine-Militärhilfe öffentlich abblitzen ließ. Das Nachrichtenportal LatinaPress: „Wenn Bolsonaro der Partner von Trump war, hat sich Lula als Partner von Putin erwiesen.“

Der Mann mit der heiseren Stimme versteht sich als Wortführer aufstrebender Staaten, die nicht nur stark auf Russland, sondern auch nach China blicken – und weniger intensiv nach Europa und in die USA. Die Volksrepublik ist jetzt wichtigster Handelspartner Brasiliens. Der Sozialdemokrat flirtet mit einer Diktatur, die kein Streikrecht gewährt und deren Konzerne das Land mit jobgefährdenden Billigprodukten fluten.

Xi Liping Lula da Silva
Der chinesische Staatschef Xi Liping und Brasilien Präsident Lula

Auch als Verwalter der riesigen Amazonas-Urwaldregion enttäuscht Lula. Bei einem Gipfeltreffen der Anrainerstaaten verweigerte er sich einem Aktionsplan zur Bewahrung des Regenwaldes. Den hatten insbesondere die Indigenen erhofft. „Lula ist nicht der lupenreine Umweltschützer, für den ihn viele im Westen halten,“ urteilt Wirtschaftsjournalist Thomas Fischermann aus Rio de Janeiro – bitter für die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die sagt: „Ohne Lateinamerika werden wir die Klimakrise nicht eindämmen.“

Nun bremst Lula beim Handelsabkommen zwischen Europa und dem Mercosur. Die vier Mitgliedsländer Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wollen der EU einen eigenen Gegenvorschlag machen. Zugleich bringt Lula einen umfassenden Freihandelspakt mit China ins Gespräch. Ist Europa draußen? Samina Sultan vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW): „China hat seine Rolle in den Mercosur-Staaten kontinuierlich ausgebaut und es deutet einiges darauf hin, dass das zunehmen dürfte.“

Während Lula die Rolle Brasiliens als südamerikanische Regionalmacht ausspielt, ist das einst einflussreiche Kolumbien eher mit sich selbst beschäftigt. Obwohl der jahrzehntelange Bandenkrieg mit über 450.000 Toten vor sieben Jahren durch ein Friedensabkommen mit der größten Guerillagruppe FARC beigelegt worden ist, ringt der linksgerichtete Gustavo Petro seit dem Amtsantritt im August vorigen Jahres mit der Umsetzung.

Rivalisierende Milizen und bewaffnete Dissidenten machen dem Ex-Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá zu schaffen. Petro ist Morddrohungen ausgesetzt. Voriges Jahr starben über 50 soziale Führer, Gewerkschafter und Umweltschützer eines gewaltsamen Todes.

Kolumbien Drogenkartelle Kokain
Kokainblätter statt Kaffeebohnen: Kolumbien kämpft gegen Drogenkartelle

Die Paramilitärs paktieren mit Kolumbiens Drogenmafia. Die illegale Kokainproduktion für den Weltmarkt ist lukrativer als traditioneller Kaffeeanbau. Selbst Kolumbiens Kinder werden zu Zehntausenden für das „weiße Gold“ eingespannt. „Die Jungen kämpfen, die Mädchen werden oft sexuell ausgebeutet,“ berichtet ARD-Fernsehkorrespondentin Marie-Kristin Boese.

Bei den Kommunal- und Regionalwahlen am 29. Oktober 2023 erlitt die linke Koalition von Petro eine bittere Niederlage. In großen Städten wie der Hauptstadt Bogotá, Cali und Medellín gewannen Oppositionskandidaten. Petros Gegner sprachen von einer „Bestrafungswahl“ für den 63-jährigen Wirtschaftswissenschaftler. Der erste linke Präsident Kolumbiens beglückwünschte die neuen Amtsinhaber – er werde die Stimme des Volkes akzeptieren und respektieren.

Dass Kolumbien trotz des Wirrwarrs zu den Ländern mit „gehobenem mittlerem Einkommen“ zählt, zeigt, welches Potenzial das Land dank seines Reichtums an Kohle, Gas und Erdöl hat.

Wundertüten des Tourismus

Trotz der Probleme ist das Land von Pop-Weltstar Shakira (“Waka Waka”) ein lateinamerikanisches Touristen-Trendziel geworden. Die Konflikte spielen sich für Fremde unsichtbar ab. Gezielte Investitionen in die Vermarktung des Landes führten vergangenes Jahr fast fünf Millionen Reisende nach Kolumbien. „Es sind die besten Einreisezahlen in der Geschichte”, berichtet Salcedo Ribero von der Tourismusbehörde Pro Colombia. Das Angebot für Fremde ist reichhaltig: Urwald, Andengebirge, Traumstrände sowohl an der Karibik- wie an der Pazifikküste.

Zwei weitere „Wundertüten“ des Tourismus sind die Länder Ecuador und Peru – trotz sozialer Verwerfungen. Ecuador – zu dem die Galápagos-Inseln gehören – ist einer der größten bilateralen Partner des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Eine andauernde Wirtschaftskrise und die Corona-Pandemie haben das kleine Land in seiner Entwicklung „um Jahre zurückgeworfen“, heißt es beim BMZ.

Der konservative Präsident und Ex-Banker Guillermo Lasso wollte die Ölabhängigkeit Ecuadors durch einschneidende Sparmaßnahmen mindern. Damit löste er Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus. Bei der Stichwahl am 15. Oktober setzte sich der rechtsgerichtete Daniel Noboa durch und wird mit 35 Jahren der jüngste Präsident des Landes. Er ist der Sohn eines Bananen-Tycoons, der selbst fünfmal versucht hatte, das höchste Amt zu erlangen.

Über dem Urnengang in Ecuador lag der Schatten des Mordes am Anti-Korruptionskandidaten Fernando Villavicencio. „Es herrscht ein Klima der Angst, für uns ist diese Situation fremd,“ hatte der Analyst Andrés González dem ZDF geschildert. Ecuador ist das lateinamerikanische Land, in dem die Zahl der gewaltsamen Todesfälle im letzten Jahr am stärksten gestiegen ist.

Pedro Castillo Peru

Unterdessen versucht das südliche Nachbarland Peru die Folgen der Absetzung von Pedro Castillo (Foto links) zu verdauen, dem ersten Staatsoberhaupt mit indigenen Wurzeln. Der im Parlament putschartig vollzogene Amtsenthebung hatte im flächenmäßig drittgrößten Land Südamerikas monatelange Proteste und die schlimmste politische und soziale Krise seit Jahrzehnten ausgelöst.

Da die vom Volk nicht gewählte Nachfolgerin Dina Boluarte keine Neuwahlen ankündigt, rechnen Experten mit weiteren Unruhen. Dabei hatte sich Peru nach Einschätzung der Europäischen Investitionsbank (EIB) zuletzt durch kontinuierliches Wirtschaftswachstum, beachtliche Entwicklungsfortschritte und große Erfolge bei der Armutsbekämpfung ausgezeichnet.

Peru-Reisende müssen sich indessen nach einer Periode der Unsicherheit nur noch vereinzelt auf Einschränkungen einstellen. Das Auswärtige Amt rät nicht mehr von Reisen ab und die Tourismusbehörde von Peru hat Schließung der Inka-Festung Machu Picchu dementiert. Eine neue Strategie soll den Zustrom europäischer Touristen steigern.

Schließlich Bolivien, eines der weltweit ärmsten Länder mit 36 indigenen Sprachen. Hier leben immer noch mehr als 60% der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Unruhen, gewaltsame Proteste oder Straßenblockaden gehören zu dem, womit man im bolivianischen Alltagsleben rechnen muss.

Verehrung trotz Verfehlung

In der höchsten Verwaltungshauptstadt der Welt, La Paz (3.640 Meter ü.d.M.) regiert seit 2020 Luis Arce, ein Freund von Verstaatlichungen. Der einstige Hochschullehrer hat ein chinesisches Konsortium und eine Tochterfirma des russischen Konzerns Rosatom am Abbau der weltgrößten Lithiumvorkommen aus den bolivianischen Salzwüsten beteiligt. Deutsche Interessenten am Grundlagenmaterial für E-Autobatterien stoppte er. Im sogenannten Lithiumdreieck Boliviens mit Chile und Argentinien sollen 60 Prozent der weltweiten Bestände liegen.

Lithium Bolivien Salzwüste
In den Salzseen liegt Boliviens weißes Gold: Lithium

Gleich hinter der Grenze Boliviens, in Argentiniens nördlichster Provinz Jujuy, sind staatliche Lithium-Abbaupläne zum Politikum geworden. Anwohner befürchten Umweltzerstörung und Ausbeutung zu Gunsten ausländischer Konzerne. Dass der Provinzgouveneur auf blutigen Protest mit Demonstrationsverbot antwortete, ist Wasser auf die Mühlen des argentinischen Populismus.

Glaube überdauert Tote

Javier Milei, der unkonventionelle Präsidentschaftskandidat, verspricht allen Frustrierten und Enttäuschten einen radikalen Neuanfang. Sollte er bei der Stichwahl am 19. November in den rosafarbenen Palast in Buenos Aires (Foto unten) einziehen, will der Politiker und Professor den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen und die Zentralbank auflösen – und die Ministerien für Bildung, Gesundheit und soziale Entwicklung gleich mit. Hunderttausende Staatsdiener würden entlassen. Der Staat solle nur Verteidigung, Innere Sicherheit und Außenbeziehungen erledigen, sagt er.

Javier Milei Präsidentschaftskandidat Argentinien
Javier Milei

Die in der ersten Wahlrunde Argentiniens mit 24 Prozent deutlich unterlegene konservative Kandidatin Patricia Bullrich hat überraschend eine Empfehlung für Milei abgegeben, der auf 30 Prozent kam. Sie hätten zwar ihre Differenzen, erklärte Bullrich. Doch stehe das Land vor dem Dilemma, sich für Wandel oder die „Fortführung einer mafiaähnlichen Regierungsführung“ entscheiden zu müssen – für die steht der mit 37 Prozent zunächst Erstplazierte Finanzminister Sergio Massa.

Egal, ob der anarcholibertäre Milei an die Macht kommt oder nicht und ob er wahr macht, was er verspricht – mit dem Heraushauen vorgeblich einfacher Lösungen ist der unermüdliche Agitator zum Blitzableiter für die Missgestimmten geworden. Das hat Tradition.

Seit den Unabhängigkeitskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts huldigen Südamerikaner gerne der Idee, es brauche nur eines autoritären männlichen Anführers, eines „Caudillo“, um die Welt zu drehen. Der in Argentinien bis heute verehrte Nationalpopulist Juan Domingo Peron und seine Gattin Evita – der „Engel der Armen“ (†1952) – sind mit ihrer Luftschlosspolitik zwar grandios gescheitert. Doch der Glaube an Wundertaten hat die Toten überlebt.

Präsidentenpalast Argentinien Buenos Aires Casa Rosada
“Casa Rosada”, der Präsidentensitz in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires