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Die poli­tis­che Land­schaft in Brasilien, dem flächen­mäßig fün­f­größten Staat der Erde, krem­pelt sich um. Nach seinem hauchdün­nen Wahlsieg gegen den recht­sex­tremen Amtsin­hab­er Jair Bol­sonaro übern­immt der sozialdemokratis­che Lula da Sil­va das Präsi­den­te­namt. Die weltweite Kli­maschutzbe­we­gung hat Freuden­cham­pag­n­er getrunk­en. Doch der ist stark ver­wässert. Auf dem Prob­lem­berg, den Lula abtra­gen muss, liegen Umwelt­fra­gen keineswegs ganz oben.

Von Wolf Achim Wie­gand

Hamburg/Rio de Janeiro (waw) — Muss man ihn bedauern oder muss man ihm freudig grat­ulieren? Das ist hier die Frage. Luiz “Lula” Iná­cio da Sil­va hat zwar die Präsi­den­ten­wahl des volk- und flächen­mäßig größten lateinamerikanis­chen Lan­des gewon­nen. Doch der Sieg gegen den recht­sex­tremen Amtsin­hab­er Jair Mes­sias Bol­sonaro war haudünn: 50,9 : 49,1 Prozent. Jed­er Zweite ste­ht nicht hin­ter dem Mann, der schon ein­mal regierte. Und weil die Ultra­kon­ser­v­a­tiv­en das Par­la­ment und viele Bun­desstaat­en kon­trol­lieren, wirft der “Tropen-Trump” weit­er tiefe Schat­ten auf die kün­ftige Regierung Lula.

Dro­ht das wichtig­ste Land Lateinamerikas in poli­tis­ches Chaos zu versinken? Die 215-Mil­lio­nen-Ein­wohn­er-Repub­lik ist poli­tisch so scharf ges­pal­ten, wie noch nie, seit Ein­führung des präsi­den­tiellen Regierungssys­tems im Jahre 1985. Unver­söhn­lich ste­hen sich die Kon­tra­hen­ten gegenüber.

Das Bol­sonaro-Lager agiert so, wie die recht­en Repub­likan­er in den USA. Sie haben sich fest in der Poli­tik ver­ankert, stellt Mar­i­lene de Paula fest, Pro­grammko­or­di­na­torin der Hein­rich-Böll-Stiftung in Brasilien. Längst sei es zur Nor­mal­ität gewor­den, Insti­tu­tio­nen und demokratis­che Werte anzu­greifen und über soziale Medi­en ein medi­aler Krieg mit polar­isieren­den Fake News geführt.

Unter Ex-Sol­dat Bol­sonaro haben Polizei und Mil­itärs neue Macht gewon­nen — neben der Wirtschaft und religiös beseel­ten Fein­den jeglich­er lib­eraler Errun­gen­schaften wie Abtrei­bungsrechte, Mit­sprache der Zivilge­sellschaft oder Schutz indi­gen­er Völk­er. Vor Lügen und Tricks machen sie nicht halt. So hat­te Bolos­naro in der Hoff­nung, viele Mil­lio­nen prekär leben­der Lula-Anhänger auf seine Seite zu ziehen, kurz vor der Stich­wahl die Auszahlung von Sozialleis­tun­gen vorge­zo­gen, Sub­ven­tio­nen für Lkw- und Tax­i­fahrer angeschoben sowie die Steuern auf Zuck­er­rohr-Ethanol als Ben­z­inzusatz gesenkt und Kochgas sub­ven­tion­iert.

Ein großes Versprechen an die Welt

Außer­halb Brasiliens wird der Sieg Lulas vor allem als Gewinn für die inter­na­tionale Umwelt- und Klimapoli­tik gefeiert. Das ist berechtigt. Will Lula doch in der grü­nen Lunge der Welt, dem Ama­zonas­ge­bi­et, das zurück­fahren, was Bol­sonaro in den ver­gan­genen vier Jahren im angerichtet hat. Ille­galer Gold­ab­bau, mas­sive Baum­fäl­lun­gen, Wei­de­landgewin­nung durch Wald­ver­bren­nung, Ver­nich­tung von Leben­sraum für indi­gene Völk­er und Rück­sicht­slosigkeit gegen einzi­gar­tige Tier­arten — das will Lula in der Region von größerem Aus­maß als die Fläche der Europäis­chen Union stop­pen.

“Ich werde die Kli­makrise zur absoluten Pri­or­ität machen, meine Pläne sind fast schon ein Glaubens­beken­nt­nis.“

Lula im Wahlkampf

Brasilien ver­spricht auf dem inter­na­tionalen Podi­um gegen den Kli­mawan­del wieder ein ver­lässlich­er und aktiv­er Part­ner zu wer­den. Das ist wegen sein­er enor­men Bedeu­tung beim CO2-Abbau drin­gend nötig. Experten schätzen: Während Bol­sonaros Präsi­dentschaft wur­den zwei Mil­liar­den Bäume ver­bran­nt oder abge­holzt — allein im ersten Hal­b­jahr dieses Jahres sei eine Fläche von der Größe des Großraums Lon­don ver­nichtet wor­den. Nun sollen Umwelt- und Kon­troll­be­hör­den wieder mehr Befug­nisse bekom­men und inter­na­tionale Hil­fe angenom­men wer­den.

“Ich möchte diesen außergewöhn­lichen Sieg der Demokratie und dem brasil­ian­is­chen Volk wid­men. Endlich ist die Frei­heit wieder da und die Men­schen kön­nen wieder lächeln.”

Lula nach dem Wahlsieg

Pelé ist nicht alles

Doch zur Wahrheit über Brasilien gehört auch, dass ganze Lan­desteile auf einem völ­lig anderen Trip sind. Aus­gerech­net im gefährde­ten Ama­zonien hat Bol­sonaro mehrere Kan­ter­siege einge­fahren. In den Bun­desstaat­en Acre und Rondô­nia bekam er über 70 Prozent der Stim­men, in Roraima sog­ar 76 Prozent. Hier denkt man nicht ökol­o­gisch, son­dern nur ökonomisch. Es geht um Export von Soja und Rind­fleisch. Umwelt­fra­gen, wie bei den lib­eralen, grün ange­haucht­en Bil­dungs­bürg­ern aus Bal­lungs­ge­bi­eten wie Rio de Janeiro und São Paulo, spie­len in diesen Agrar­re­gio­nen keine sig­nifikante Rolle.

In Europa wird das Land von der Größe Europas häu­fig auch als fröh­lich-bunte Karnevals- und Fußball­na­tion verkan­nt. Dabei ist Brasilien eine wirtschaftliche Welt­macht. So liefert die einzige por­tugiesis­chsprache Repub­lik Lateinamerikas der Welt in großem Stile Nahrung: Soja, Zuck­er, Kaf­fee und Fleisch. Im Atlantik, vor der 8.000 Kilo­me­ter lan­gen Küste, lagern noch riesige Erdölvorkom­men. Konz­erne wie der Flugzeug­bauer Embraer, der Berg­baukonz­ern Vale do Rio oder Volk­swa­gen do Brasil — nach Chi­na der größte VW-Stan­dort — sind inter­na­tionale Play­er. JBS S. A. ist größter Fleis­ch­pro­duzent der Welt.

  • Brut­toin­land­spro­dukt: 1.445 Mil­liar­den US-Dol­lar (2020), eine der größten Volk­swirtschaften der Welt.
  • Inter­na­tion­al größte Arten­vielfalt: 430 Säugetier­arten, darunter Ozelot, Riesenot­ter und Fluss­delfin. 5.600 Fis­charten wie der gefährliche Piran­ha. 1.500 Voge­larten, darunter Tukan, Ara und Kolib­ri.
  • Weltweit größter Regen­wald: Fläche wie von Berlin nach Bag­dad. Bedeu­tung fürs Kli­ma: Spe­ichert 90 bis 140 Mil­liar­den Ton­nen Kohlen­stoff pro Jahr, macht zehn Prozent der Bio­masse des Plan­eten aus.
  • Ama­zonas, wasser­re­ich­ster Fluss der Erde: Ver­sorgt ganz Südameri­ka mit Feuchte, bee­in­flusst Regen­fälle, sta­bil­isiert das Weltk­li­ma.
  • Rohstof­fliefer­ant biol­o­gis­ch­er Wirk­stoffe: Mehr als 10.000 Pflanzenarten enthal­ten Zutat­en für Medi­zin, Kos­meti­ka, oder Schädlings­bekämp­fung.

Auch poli­tisch ist Brasilien keineswegs ein Rand­land. Es ist das am häu­fig­sten gewählte nicht­ständi­ge Mit­glied im Sicher­heit­srat der Vere­in­ten Natio­nen (UN). Sein Streben, einen ständi­gen Sitz zu ergat­tern, schlägt allerd­ings trotz dieser Beliebtheit immer wieder fehl.

Das Dauer­scheit­ern bei den UN kann sym­bol­isch für das Dilem­ma ste­hen, in dem Brasilien steckt. Der Riese schläft immer wieder ein, weil seine Wirtschaft­skraft nicht im Inland ankommt. Die Armut steigt derzeit wieder — trotz rel­a­tiv guter Wirtschaft­szahlen und trotz der in Südameri­ka bemerkenswert bre­it­en Mit­telschicht. Enorme Mod­ernisierun­gen haben nicht ver­hin­dert, dass die Infra­struk­tur mar­o­de ist: Abwasser­sys­teme kol­la­bieren, Straßen­beleuch­tung ist keine Selb­stver­ständlichkeit, die Postzustel­lung ist unzu­ver­läs­sig und auch mehr Polizeis­ta­tio­nen haben die bluti­gen Kriege grausamer Dro­gen­ban­den nicht gestoppt.

Bohnen in den Ohren

Für Europa ste­ht indessen viel auf dem Spiel, wenn Brasilien unter Lula nicht vorankom­men sollte. Immer noch wartet das Han­delsabkom­men zwis­chen der EU und dem Mer­co­sur — dem Block südamerikanis­ch­er Län­der — auf die Umset­zung. Es war 2019 unterze­ich­net wor­den und galt als der weltweit größte Ver­trag sein­er Art. Auf Druck zunächst Frankre­ichs und später auch Deutsch­lands hat­te die EU die Regelung auf Eis gelegt.

Offiziell woll­ten die Europäer Garantien gegen die Zer­störung des Ama­zonaswaldes durch Expan­sion von Getrei­de- und Rinder­pro­duzen­ten erwirken, was bei Bol­sonaro auf taube Ohren stieß. Frankre­ich ging es aber auch um Ober­gren­zen für Sojaim­porte aus Brasilien, da es selb­st in Wes­teu­ropa der größte Pro­duzent dieser Nutz- und Nahrungs­bohne ist. Auch das Europäis­che Par­la­ment hat sich gegen eine Rat­i­fizierung in der jet­zi­gen Form aus­ge­sprochen, eben­so wie Umweltver­bände.

Kommt nun neuer Schwung in den Pakt mit der fün­ft­größten Volk­swirtschaft der Welt? Der IWF traut dem Schwellen­land in den kom­menden fünf Jahren nur ein Wirtschaftswach­s­tum von real knapp zwei Prozent pro Jahr zu. Das wäre zu wenig, um das enorme wirtschaftliche Poten­zial des Lan­des sig­nifikant zu heben.

Indessen ist der Schat­ten Bol­sonaros keineswegs weg – ähn­lich wie der von Trump in den USA. Dessen kom­pro­miss­lose ide­ol­o­gis­che Agen­da, die den Staatsin­sti­tu­tio­nen nur Ver­ach­tung ent­ge­gen­bringt, wird Brasilien weit­er prä­gen. Die Staatskun­st Lulas wird sich weniger an Umwelt- und Kli­mafra­gen erweisen, son­dern daran, ob er sein ges­paltenes Land trotz des man­gel­nden Ver­trauens sein­er hal­ben Bevölkerung zusam­men­führen kann.

“Es gibt keine zwei Brasiliens, wir sind ein Land, ein Volk, eine große Nation. Ich werde für alle regieren, reich und arm, links und rechts. Es ist an der Zeit, die Waf­fen niederzule­gen.”

Lula