Estland hält am östlichsten Zipfel der EU-Außengrenze die Wacht des Westens. Die kleine baltische Republik steht gegen den übermächtig erscheinenden großen Nachbarn Russland. Die Menschen des Ostseestaates, der einst als Sowjetrepublik ausgebeutet wurde, haben Wertvolles zu verteidigen: Ihre Freiheit in nationaler Unabhängigkeit, Demokratie und eine einzigartige Kulturgesellschaft.

Estland tallinn Marktplatz

Eindrücke einer Reise von Wolf Achim Wiegand  

– Dieser Text ist ähnlich in FORUM, das Magazin erschienen –

Tallinn (waw) – Nirgendwo sonst in Europa ist der neue Eiserne Vorhang zwischen Ost und West so hautnah erlebbar, wie in der estnischen Grenzstadt Narwa. Hier, an der östlichen EU- und NATO-Außengrenze, trennen nur 130 Meter die Grundmauern der trutzigen Zwillingsbastionen Hermannsfeste (Estland) und Iwangorod (Russland). Zwischen den Trutzbauwerken (Fotos unten) schlängelt sich eilig der kleine Fluss, der ebenfalls Narwa heißt und schon 1242 als dauerhafte Grenze vereinbart wurde. Man könnte ihn in wenigen Zügen durchschwimmen und befände sich am anderen Ufer in einer ganz anderen Welt.  

Kurze Geschichtsstunde:

Seit Jahrhunderten stehen sich die Bollwerke an der Narwa gegenüber – steinerne Zeugen einer kampfreichen Geschichte. Dänen gründeten die Hermannsfeste Mitte des 13. Jahrhunderts. Damit sicherten sie den Ostseezugang. Später übernahm der Deutsche Orden. Der beherrschte das Baltikum wie einen Staat. Schließlich ging der östlichste Verteidigungspunkt des Westens gegen Russland an die Schweden.  

Erst im Zweiten Weltkrieg wurde die Hermannsfeste unbrauchbar – zerstört bei einer monatelangen Schlacht zwischen Wehrmacht und Roter Armee. Das Bombardement legte auch den Großteil der Stadt Narva in Trümmer. Das äußerlich vollständig erhaltene Gegenbauwerk zur Hermannsfeste, die mächtige Burg Iwangorod am Narwa-Ostufer, legte Großfürst Iwan III. 1492 an. Seitdem belauern sich an dieser Stelle Ost und West.  

Als Estland von 1940 bis 1990 eine russifizierte Sowjetrepublik war, gewährten die Kremlherrscher der mitzerstörten Stadt Narwa keine Gnade der Restaurierung und des Wiederaufbaus. Bis heute leben die 60.000 Einwohner in einer weitgehend grauen Stadt. Die estnische Regierung bemüht sich um Besserungen. Dazu gehören eine neue Hochschule und moderne Gewerbegebiete. Aber die Beziehungen Narwas mit der Hauptstadt Tallinn sind problemtisch. Auch dazu ein kurzer historischer Abstecher.  

Das Trauma der Sowjetisierung und Russifizierung plagt Estland bis heute. So, wie die anderen Baltenstaaten Lettland und Litauen. Erbe dieser Geschichte: In Narwa stammen fast 90 Prozent der Einwohner von Russen ab. Diktator Josef Stalin siedelte sie an. So wollte er die unabhängigkeitsbedachten Esten in Schach halten, nachdem sie Sowjetrepubliken werden mussten (1944 – 1991). Das Baltikum hatte ursprünglich 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkiegs die Unabhängigkeit erhalten. 

Fast 35 Jahre nach der zweiten Unabhängigkeit spricht Narwa weiter Russisch. Hinweisschilder und Werbeplakate sind kyrillisch beschriftet. Tausende Russischstämmige sind weder Bürger des Landes, in dem sie leben, noch der Russischen Föderation, sondern Inhaber eines “grauen Passes”. Es gibt junge Menschen, die russischsprachige Schulen besuchen und kein Estnisch reden.

Das alles schmeckt der estnischen Regierung gar nicht. Das Parlament beschloss 2022 das Estnische als einzige Unterrichtssprache. Zahlreiche russischsprachige Schulen wurden geschlossen. Nach Meinung von UN-Sachverständigen schränkt das die Rechte der russischsprachigen Minderheit unzulässig ein. Aber das Fremdeln und Misstrauen dauert an.  

Tallinn: Lebenslinie von Estland  

Etwa 200 Kilometer westlich von Narwa an der Ostseeküste sieht die Welt ganz anders aus.

Tallinn, die Hauptstadt, ist quirlig und westlich ausgerichtet. Sie gilt als eine der am besten erhaltenen Hansestädte der Welt. In ihrer von Stadtmauern umschlossenen wunderschön restaurierten Altstadt reihen sich farbenfroh frühere Kontore, Lager und Handwerkerhäuser aneinander. Die fast märchenhaft wirkende Kulisse wird auch nicht durch bisweilen tausende Touristen gestört, die durch die engen Gassen streifen, nämlich dann, wenn gerade wieder ein Kreuzfahrtschiff angekommen ist und Passagiere ausgespuckt hat.  

Tallinn ist einer der belebtesten Fährhäfen des Ostseeraums. Neben Kreuzfahrtenschiffen legen mehrmals täglich die großen Schiffe aus Schweden, Finnland und Dänemark an. Sie spucken Pkw, Laster und Menschen aus und saugen ebenso schnell wieder welche ein. Tallinn ist ein wichtiger Punkt der Europastraße 67 (Via Baltica), die in Prag beginnend bis in den hohen Norden führt. Die finnische Hauptstadt Helsinki ist bei 80 Kilometern Luftlinie nur etwas über zwei Stunden Seefahrt entfernt. Ein Decksticket ist schon für 15 Euro zu haben.  

Finnen sind heute die Hauptklientel des blühenden estnischen Tourismus. Die Beziehungen sind so eng, dass der transnationale Kultur- und Wirtschaftsraum am Finnischen Meerbusen schon scherzhaft „Talsinki“ genannt wird. Manche sagen auch „Helsinki-Süd“, wenn sie Tallinn meinen.  

Bis zu Putins Einmarsch in die Ukraine waren die Russen ein wichtiger Faktor des Fremdenverkehrs. Dass sie nicht mehr kommen können, um Strände, Spas und Spaß zu genießen, schmerzt die Branche. Estland hatte voriges Jahr seine Grenzen für russische Staatsbürger geschlossen.

“Ein Besuch in Europa ist ein Privileg, aber kein Menschenrecht,” hatte Regierungschefin Kaja Kallas streng getwittert:

Auch Deutsche bleiben spürbar aus – offenbar unter dem irrigen Eindruck, Estland sei vom Ukraine-Krieg betroffen. Dabei sind Bomben und Raketen in dem EU- und NATO-Land genauso weit weg wie in Berlin.

Vielleicht liegt die Fehleinschätzung daran, dass das deutsche Wissen über das Baltikum sowieso suboptimal ist. Wenige wissen, dass die Region seit dem 12. Jahrhundert durch deutsche Besiedelung ein fester Bestandteil des westlichen Kulturraumes ist. Im heutigen Estland ist der deutsche Einfluss überall weiter zu finden.

Tallinn ist für Finnen eine Art Wochenendfrische. Freitags strömen unzählige Rollkoffer ratternd von den Fähren kommend in die Hotels und am Sonntag wieder heraus. Locken tun günstige Preise für Shopping sowie bei Drinks, Strandunterkünften und Vergnügungen. Erleichtert wird die Reisefreudigkeit durch sprachliche Gemeinsamkeiten und ähnliche Kultur einschließlich des Saunabadens.  

Estland auf dem Land: Wälder, Felder, Elche  

Anders als für Touristen ist Tallinn für Esten kein günstiges Pflaster. Die Inflationsrate des Landes ist etwa doppelt so hoch wie in Deutschland. Seit dem EU-Beitritt verzeichnet die Stadt bei Immobilien mit die höchsten Miet- und Kaufpreise des Staatenverbundes.

Investoren haben im Neustadt-Zentrum ein Viertel mit Hochhäusern errichtet, das alte Holzhäuser – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Schatten stellt. Dazu gehört die verwunschen wirkende estnisch-orthodoxe Kirche, die im 18. Jahrhundert auf Initiative von Seeleuten aus Schiffswracks gezimmert wurde (Foto unten). Die Sowjets missbrauchten die Kirche als Sporthalle, nun ist sie wiederhergestellt – wirkt aber neben den Skyscrapern wie aus der Zeit gefallen.  

Ganz in der Nähe schießen beim Hafen im sogenannten Rotermanni-Viertel auf über 50.000 Quadratmetern Gebäudefläche hunderte Komfortwohnungen für Hippster in die Höhe. Während der sowjetischen Okkupation war das Gelände eine gammelige Brache.

Nach dem Abzug der Russen wurden die einstigen Getreidespeicher, ein Kesselhaus und ein Kraftwerk renoviert. Nun verbinden sie sich mit techno-futuristischen Architekturelementen. Schicke Büros reihen sich in der früheren Industriegegend neben gut besuchte trendige Bars, Restaurants und Karaoke-Locations.

Emajõgi Fluss Estland
Emajõgi („Mutterfluss“): Mit 100 km längster Fluss Estlands strömend in den Peipussee

Gemächlicher als in Tallinn geht es anderswo in Estland zu. Die Nation ist zwar nur etwa so groß wie Niedersachsen. Sie hat aber mit unter 1,5 Millionen Einwohnern viel freie Fläche. Die Landschaft ist geprägt von grünen Wäldern, Feldern und Seen.

Manchmal läuft ein Elch die wenig befahrenen Straßen entlang. Am Rande locken Sehenswürdigkeiten. Es gibt alte Herrensitze aus der Zeit des Deutschbaltentums zu besichtigen. Oder Hunderte Jahre alte Kirchen und Festungen.  

Tartu, Estland: Kulturhauptstadt Europas 2024  

An der Westküste beim traditionsreichen Seebad Haapsalu locken Sommerfrischen mit Surf- und Segelgelegenheiten. Paradiesisch sind mehrere Nationalparks, die bisweilen bis an die Meerwasserkante reichen.

Traditions- und Umweltpflege mit moderner Lebensweise zu verbinden – darauf sind die Esten besonders stolz. In ihrem naturbewussten Land wurde die weltweit angewendete digitale Kommunikationsplattform Skype erfunden. Die Bürger können online wählen. Die Steuererklärung am Laptop einreichen – kein Problem. Aus Sowjetrepubliken kommen besonders gerne Delegation her, um zu studieren, wie man sich als Staat ins Zeitalter der Bits and Bytes beamt.  

Besonders deutlich wird das estnische Selbstbewusstsein in der ehrwürdigen Universitätsstadt Tartu, rund 180 Kilometer südwestlich von Tallinn gelegen. Im Park auf dem Domberg (Toomemägi), einem waldähnlichen Gelände, wandelt der Besucher an zahlreichen Statuen und Plaketten vorbei. Sie erinnern an Literaten, Gelehrte und Forscher aus Tartu, das früher Dorpat hieß und einer der bedeutendsten Wissenschaftsstandorte Europas war. Am Rande des schattigen Parks liegen die imposante Backsteinruine des Doms mit Wurzeln im 13. Jahrhundert und das historische Observatorium.  

Bei aller Tradition: Tartu ist eine smarte und grüne Stadt. Die Busse fahren seit 2020 mit Biogas aus Abfällen der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Dauerkarten für den Bus gelten auch für ein Leihradnetz, das bis in die Vororte reicht. Zwei Drittel der Zweiräder sind E-Räder. In der kalten Jahreszeit sammelt die Stadt sie ein, um die Akkus zu schon. Den verbleibenden Rädern werden Winterreifen aufgezogen.  

Tartu gehört zum Netzwerk kreativer Städte der UNESCO. Es trägt den Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“. Im kommenden Jahr kommt für den einzigen Standort einer estnischen Volluniversität ein neuer Titel hinzu: Europäische Kulturhauptstadt 2024. Darauf bereitet sich die 100.000-Einwohner-Stadt am Fluss Emajõgi („Mutterfluss“) vor. Die Rathausfassade wurde gerade saniert. Viele Veranstaltungen sollen die Einwohner heute schon für das Ereignis sensibilisieren.  

„Tartu wird seine Chance nutzen, sich einer größeren Öffentlichkeit von der besten Seite zu präsentieren“, verkündet die offizielle Website. Geplant ist ein reichhaltiges Programm mit Licht, Kultur und Wissenschaft sowie Diskussionen zum Thema “hybride europäische Demokratie”. Auch originelle Aktionen stehen auf dem Programm wie “Kissing Tartu” mit „noch nie dagewesenen Massenküssen“. Die Küsserei mit Anstiftung soll Mitgefühl und Respekt gegenüber anderen fördern.  

Narwa: Ort der Trennung, Ort des Treffens  

Zurück nach Narwa, Europas russischste Stadt und das ganz andere Gesicht Estlands. Hier haben die meisten Menschen familiäre Beziehungen zur russischen Seite des schmalen Grenzflusses. Ihr Blick auf das nahe Reich des Wladimir Putin ist ein anderer als für die stolz wieder eigenständig gewordenen Esten. Viele Russischstämmige verklären die Sowjetzeit als die Ära, in der sie noch etwas zu sagen hatten im Staate Estland.

Starke Gedanken über Frieden und “Frieden” von Regierungschefin Kaja Kallas

Auch nach den westlichen Sanktionen nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine blüht in Narwa ein ameisenähnlicher kleiner Grenzverkehr – zu Fuß. In Stoßzeiten ergießt sich beständig ein Menschenstrom mit Rollkoffern über die kurze Brücke, die von dicken Stahlgittern und Stacheldraht gesichert ist. Einige Pkws wollen hier auch durch. Die Abfertigung kann trotz obligatorischer Voranmeldung bis zu acht Stunden dauern. Fahrplanmäßig getaktet ist dagegen der private Busverkehr bis ins nur 150 Kilometer entfernte St. Petersburg.

Das estnische Uferstück neben der NarwaGrenzbrücke im Angesicht der beiden Festungen ist über die Jahre zur beliebten und belebten Erholungsoase geworden. Mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union ist ein Aussichtsbalkon entstanden. Von hier aus kann man Russland in den Hinterhof blicken – wie in einem Minitiaturwunderland. Berliner Mauergefühl kommt auf. Ein kleines bisschen. 

Auch am russischen Ufer der Narwa ist ein kleiner Flussstreifen aufgebessert worden. Er ist für Menschen zugänglich, die von Russland her in die geschlossene Stadt Iwangorod kommen. Das ist nur mit Sondererlaubnis möglich. Manchmal sind russische Touristen auf dem Festungsturm zu sehen. Von dort blicken sie unter ihrer großen horizontal weiß-blau-rot gestreiften Flagge herüber in den Westen – wohl auch wie in ein Wunderland?

  • Ein Angler fängt Fische, die im Wasser zwischen Ost und West die Freiheit haben, zu schwimmen, wohin sie möchten.
  • Eine junge Frau schießt am letzten rotgrünen russischen Grenzpfahl vor NATO-Gebiet ein Handy-Selfie – wer ist sie wohl?
  • Das Kind einer Familie mit Hunden plantscht ausgelassen im Wasser. Mit welcher Erlaubnis? Einwohner Nowgogorods? Was denken sie so?

Fragen über Fragen. Eine Kontaktaufnahme mit dem Ostufer findet trotz Rufweite nicht statt.  

Die diesseitige Uferseite lockt indessen zum Spaziergang auf der modern gestalteten Promenade. Jeden Abend gibt es hier an schönen Tagen ein Stelldichein. Liebespärchen, Feierabendgenießer, sogar Badefreudige.

Es ist paradox: Die militärisch scharf gesicherte Außengrenze zweier Machtblöcke ist an dieser Stelle Narwas irgendwie kein Ort der Trennung. Sie ist ein Platz des Treffens. Jedenfalls hier in Estland. Im Westen. Im Osten leider nicht.

Estland Ostseeküste Haapsalu