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Von Wolf Achim Wie­gand (Titelfo­to: © 10 Down­ing St)

Ham­burg / Lon­don (waw) — Nun hat Boris John­son es getan. Der begabteste und ruchlos­es­te Pop­ulist Europas hat den Hut gewor­fen. Dazu bedurfte es tage­langer und würde­los­er kräftiger Hin­tern­tritte. Erst als sein Kabi­nett durch Masse­naus­tritte zer­bröselte schmiss der 58jährige Kon­ser­v­a­tive als britis­ch­er Pre­mier­min­is­ter hin.

Ich möchte Ihnen sagen, dass ich trau­rig bin, diesen Job aufzugeben“, sagte er in Anwe­sen­heit von Ehe­frau Car­rie (33) und Baby Romy (9 Monate) in sein­er Rück­trittserk­lärung vor der Tür seines Amtssitzes 10 Down­ing Street (hier auch schriftlich). “Es ist der beste Job der Welt“.

Kein Wort der Selb­stkri­tik. Kein Bedauern über Fehler. Selb­stüber­höhung bis zum Schluss.

Alexan­der Boris de Pfef­fel John­son — im Volksmund auch BoJo genan­nt — ist zum denkbar schlecht­esten Zeit­punkt von der Bühne in Lon­don abge­treten. Das Land ste­ht vor mas­siv­en Her­aus­forderun­gen. Krieg in Europa. Stag­nieren­des Wach­s­tum. Steigende Infla­tion. Um nur drei Punk­te zu nen­nen.

Probleme sind gewaltig

Großbri­tan­nien ist zum wirtschaftlichen Schlus­slicht unter den großen Indus­trien­atio­nen gewor­den. Das hat auch mit dem Brex­it zu tun. Der teur­er gewor­dene Zugang zum EU-Bin­nen­markt ist für Englän­der, Schot­ten, Walis­er und Nordiren enorm erschw­ert wor­den.

Laut Experten wird die nicht mehr selige Insel wegen der Han­delsver­luste pro Jahr um 100 Mil­liar­den Pfund ärmer. Der Staat ver­liert zugle­ich rund 50 Mil­liar­den Euro an Steuere­in­nah­men. Das Geld fehlt für Investi­tio­nen etwa in mar­o­de Infra­struk­tur.

Dazu kommt: Der Man­gel an Arbeit­skräften führt zu Logis­tikprob­le­men. Seit der Entschei­dung der Briten, die EU zu ver­lassen, sind Suchan­fra­gen in Online-Por­tal­en um 11,4 Prozent gesunken. Am stärk­sten ist der Rück­gang mit 52 Prozent bei Rumä­nen (oft Ern­te­helfer und Lkw-Fahrer) sowie bei Por­tugiesen (-41 Prozent) und Polen (-34 Prozent). Vor allem Man­ag­er wollen nicht mehr ins UK.

Eine Mehrheit der Men­schen zweifelt inzwis­chen am Nutzen des EU-Aus­tritts. Das Kön­i­gre­ich ist zum abgele­ge­nen Drit­t­land gewor­den. Jede Urlaub­sreise von Bürg­erin­nen und Bürg­ern in Rich­tung südlich des Ärmelka­nals wird zur Expe­di­tion: Ein­reise­for­mu­la­re, Passkon­trolle, Gepäck­durch­sicht.

Großbritannien — Allein zu Haus

Aus­gezahlt hat sich die von John­son stets laut­sprecherisch betriebene Abspal­tung des Vere­inigten Kön­i­gre­ich­es vom Kon­ti­nent nicht. Eine neue Vision von der zukün­fti­gen Rolle des zur unteren Mit­tel­macht geschrumpften Ex-Empires fehlt.

John­sons lib­ertären Unter­stützer wollen aus Großbri­tan­nien eine radikal dereg­ulierte Steueroase machen. Sie soll befre­it sein von den ange­blichen Fes­seln der Europäis­chen Union. Dieser Plan ist bis­lang nur ein Pustekuchen.

Der Brex­it bringts nicht

Großmäulig hat­te John­son zudem die Bil­dung eines “europäis­chen Com­mon­wealth” ins Gespräch gebracht. Sein Län­der­bünd­nis sollte neben Großbri­tan­nien auch die Ukraine, Polen, das Baltikum und die Türkei umfassen. Alles reine Parole. Und fern der Real­ität. Stattdessen ist ein Han­del­skrieg mit der EU möglich: Großbri­tan­nien – Allein zu Haus.

Oberintrigant boxt sich durch

Reif für den Rück­tritt war John­son seit Langem. Nicht unbe­d­ingt wegen sein­er schlecht­en ökonomis­chen Bilanz. Son­dern vor allem wegen seines Charak­ters. Der in den USA geborene Nachkomme eines britis­chen Europaab­ge­ord­neten und Brud­er eines Ober­haus­poli­tik­ers hat sich auf allen Kar­ri­er­estufen durch auf­fäl­lig extro­vertiertes Ver­hal­ten aus­geze­ich­net.

Schon als junger Jour­nal­ist bei der renom­mierten Tageszeitung The Times wurde John­son wegen Zitatver­fälschung ent­lassen. Fraue­neska­paden, une­he­liche Kinder (eines davon lange ver­schwiegen), Trit­tfes­tigkeit bei Fet­tnäpfen, Ver­drehen von Tat­sachen (man nen­nt das auch Lügen), unhalt­bare poli­tis­che Aus­sagen — all das steck­te John­son lau­thals lachend weg.

Als Ober­in­tri­g­ant schaffte er den Sprung zum Ober­bürg­er­meis­ter der Welt­metro­pole Lon­don. Dann zum Außen­min­is­ter. Und schließlich — nach dem intri­g­an­ten Absä­gen von There­sa May — zum Pre­mier­min­is­ter Ihrer Majestät Queen Eliz­a­beth II.

Vier Natio­nen sind Vere­inigtes Kön­i­gre­ich: Eng­land, Schot­t­land, Wales und Nordir­land

Boris John­son hin­ter­lässt ein auch landsmän­nisch tief ges­paltenes Land. Von Vere­inigtem Kön­i­gre­ich ist keine Rede mehr.

Boris Johnson: Nur noch eine lahme Ente

Noch tiefer gehen die Risse durch die Gesellschaft. Die tonangebende Ober­schicht lebt wie in Empirezeit­en in ein­er lux­u­riösen Wohl­stands­blase. Ihr Kos­mos sind märchen­hafte Besitztümer, exk­lu­sive Pri­vatschulen und vor Jahrhun­derten selb­st zuge­sproch­ene Priv­i­legien wie ererbte Par­la­mentssitze. Die feinen abgeschot­teten Klubs, in denen sie sich bewe­gen, haben nichts zu tun mit den vie­len tris­ten Arbeit­slosen­quartieren lan­dauf landab.

Groß gesprun­gen und als lahme Ente gelandet…

Die Krise in Großbri­tan­nien ist nicht zulet­zt eine Krise des britis­chen Parteien­sys­tems. Das lis­ten­lose Mehrheitswahlrecht, bei dem der Stim­men­stärk­ste immer den ganzen Wahlkreis gewin­nt (“the win­ner takes it all”), führt keineswegs zu mehr Sta­bil­ität. Im Gegen­teil. Die Abwe­sen­heit von Koali­tio­nen zemen­tiert Kom­pro­miss­losigkeit.

Die Dauergewin­ner Kon­ser­v­a­tive (Torys) und Sozialdemokrat­en (Labour) ver­hak­en sich wie in den USA in aggres­sivem Gegeneinan­der. Der Wille zum Inter­esse­naus­gle­ich fehlt. Fen­sterre­den sind wichtiger als Kom­pro­misse. Andere Parteien wie Lib­erale und Grüne bleiben selb­st bei acht­baren Erfol­gen im Abseits. So repräsen­tiert das britis­che Unter­haus kaum den vielschichti­gen Willen der Wäh­lerin­nen und Wäh­ler.

Großbritannien vor ungewissen Zeiten

Eine Per­sön­lichkeit zum Zer­schla­gen des Knotens ist vor­erst nicht in Sicht. Es wer­den Monate verge­hen bis die Queen einen neuen Mieter für 10 Down­ing Street ernen­nen darf. Bis dahin amtiert Boris John­son geschäfts­führend weit­er.

Auf einen schnellen Wech­sel hofft man ins­beson­dere in Brüs­sel. Obwohl John­son ein zuver­läs­siger Part­ner in der NATO war — und bei der Waf­fen­hil­fe an die Ukraine ganz vorn: Mit der EU lag der eigensin­nig und nation­al ori­en­tierte Poli­tik­er schw­er über Kreuz.

Der Mann mit der blonden Wuschelkopf­frisur bleibt also noch eine Weile auf der poli­tis­chen Bühne. Das ärg­ert seine inner­parteilichen Geg­n­er. Schon kur­sieren Gerüchte, der poli­tis­che Über­leben­skün­stler könne sich Wege ebnen, um kün­ftig doch noch im Amt zu bleiben. Den­noch: Zunächst ist die Rolle des beg­nade­ten Selb­st­darstellers die undankbare Funk­tion ein­er “lame duck” — ein­er lah­men Ente.